»Keiner darf in meine Gedanken, verriegle sie mit heißer Luft, zwing sie in ihre Schranken. Mit Liebe wehre ich Hekate und alle anderen ab, das verdanke ich deiner Macht. Ein Hauch vergeht, wirst immer sein. Ich weiß, du lässt mich nie allein!«
Während ich mich aufrichtete, führte ich die Athame durch die Luft, als würde ich etwas zerschneiden. Damit hatte ich meine Grenze gezogen. Jetzt war ich sicher vor Hekates Neugierde.
Ich straffte meine Schultern und blickte zum Himmel. »Ich stehe vor einer sehr schweren Aufgabe. Ich brauche deine Hilfe.«
»Freyja!« Hekates Ruf riss mich aus meiner Bitte.
Ich atmete tief durch, um mich nach meiner Ahnin umzublicken. Ihre Miene spiegelte Sorge und Ärger zugleich. Sie kam geradewegs auf mich zugelaufen. »Wo warst du denn die ganze Zeit, und wo sind Blitz und Donner?«
»Sie sind fort. Wo ist meine Mutter?«, fragte ich und unterdrückte die Angst, die sich schon wieder ihren Weg in mir suchen wollte. Wir dürfen Mama nicht mehr einen Moment aus den Augen lassen. Sie ist in großer Gefahr.
»Fort? Ich wollte mit ihnen reden. Axara ist im Haus, sie stillt das Baby. Was haben dir die beiden mitgeteilt?« Ihr Blick war durchdringend.
Ich atmete tief ein und zuckte mit den Schultern. »Lass uns auch ins Haus gehen«, sagte ich, statt ihr eine Antwort zu geben. Ich hoffte, sie würde mein Schweigen widerstandslos akzeptieren. Doch da hatte ich mich getäuscht, denn bereits im nächsten Augenblick geschah etwas, das ich nicht verhindern konnte. Ein ohrenbetäubender Knall fuhr mir durch Mark und Bein. Was war das? Ich sah zu meiner Ahnin, die, als hätte sie eine unsichtbare Kraft gestoßen, von mir fort taumelte, sodass sie den Halt verlor und hinfiel. Es war genau an der Stelle, an der der Drache sich materialisiert hatte. Sie saß praktisch in einem der Fußabdrücke. Ich sah Hekates zerknirschten Gesichtsausdruck und wusste mit einem Mal, was das für ein Knall war. Meine Urgroßmutter hatte wieder einmal versucht, unerlaubterweise meinen Kopf zu betreten. Zum Glück hatte mein starker Zauber sie daran gehindert.
»Danke«, hauchte ich gen Himmel. Ohne es zu wollen, musste ich über die Lektion, die Hekate gerade eben erfahren hatte, grinsen. Ich half ihr auf die Beine und verbiss mir jeglichen Kommentar. Hekates Wangen glühten. Sie senkte den Blick gen Boden und befreite ihren Rock von Dreck und Laub.
Schweigend gingen wir zum Haus. Erst als wir es betreten hatten und ich feststellte, dass Axara mit meiner Schwester nicht in der Kammer war, sprach ich wieder mit meiner Ahnin. »Du sagtest doch, dass wir uns nicht lange im Haus aufhalten können. Wie sieht dein Plan aus?« Müde und erledigt ließ ich mich auf einem der Küchenstühle nieder. Sofort fühlten sich meine Beine noch schwerer an.
Hekate wirkte gedankenverloren und lehnte sich an eine Anrichte. »Ich weiß es nicht, Freyja. Axaras Auftauchen hat alles durchkreuzt. Sollte die Medusa wirklich hier herfinden, sind wir ihr ausgeliefert.«
Und nicht nur die Medusa. Ich biss mir auf die Lippen, um meine Gedanken nicht laut auszusprechen. Ein kalter Schauder überzog mich, und ich holte mir eine Decke, unter die ich mich kuschelte. An meine Feinde wollte ich nicht denken. Es war schon tragisch genug, dass nebenan das Böse in meiner Schwester wütete, auf die ich aus diesem Grund überhaupt keine Lust hatte.
Als hätte Mama meine Gedanken erraten, öffnete sich die Tür zur kleinen Kammer und sie trat mit dem Baby heraus. Sofort fiel mir ihr glasiger Blick auf. Auch wirkten ihre Bewegungen hölzern, wie von einer Marionette. Sie wurde von dem Baby kontrolliert, das wusste ich nun. Blödes Blag!
Sofort schüttelte ich über mich selbst den Kopf, als ich bemerkte, dass ich das Kind zum Teufel wünschte. Die Kleine konnte am allerwenigsten dazu. Zeratostus war der Übeltäter, schalt ich mich. Und meine Selbstkritik ging noch weiter. Ausgerechnet ich maßte mir an, so über sie zu richten. Ich war schließlich einmal in der gleichen Situation gewesen, und damals hatte sich meine Großmutter für mich geopfert, sonst wäre ich es gewesen, die das Blut der Familie Rose verraten hätte. Ein hässlicher Gedanke, der Übelkeit in mir auslöste. Ich erhob mich, um an die frische Luft zu gehen, da trat mir Mama in den Weg. Meine Schwester blickte mich neugierig an. So ein niedliches Gesicht und diese Augen. Sie hatte außergewöhnliche Augen. Das eine war braun und das andere grün. Untypisch für eine Rosenhexe, aber es verlieh ihr auch etwas Besonderes. Ansonsten sah das Baby normal aus. Ich sollte ihr etwas sagen, so etwas wie „Willkommen in unserer Familie“, aber ich brachte keinen Laut über die Lippen. Wir sahen uns beide nur schweigend eine ganze Weile lang an, und ich fragte mich, ob sie ahnte, dass ich über ihr Schicksal entscheiden musste.
»Wir sollten zu Bett gehen«, schlug Hekate vor. »Morgen können wir besprechen, was wir machen sollen.«
Ich nickte ihr zu. Einen genauen Plan hatte ich noch nicht, und es war der einzige Vorschlag. Außerdem würde ein bisschen Schlaf mir sicherlich guttun.
Ich sah Axara hinterher, die sich ohne sich zu verabschieden, wieder umdrehte und erneut in der Kammer verschwand. Ich muss den beiden helfen, etwas anderes kam für mich nicht in Frage.
»Wir müssen einen Schutzzauber sprechen«, riss mich Hekate aus meinen Gedanken. Sie hat recht. Auch wenn ich total erledigt war, wusste ich, wie lebenswichtig es in dieser Nacht sein würde.
»Du siehst sehr erschöpft aus«, stellte sie fest. Ich hatte dem nichts entgegenzusetzen.
Sie lächelte milde. »Ich bin auch sehr müde, Freyja, aber unsere Kraft muss wenigstens für eine Nacht reichen. Das sollten wir doch wohl hinbekommen.« Sie zwinkerte mir aufmunternd zu, und ich nickte lächelnd. »Geh und hole ein paar Rosen, ich bereite den Rest vor«, forderte sie mich auf.
Mit letzter Kraft machte ich mich daran, draußen sechs Blumen, die sich am Haus hochrankten, zu schneiden. Ihr aromatischer Duft strömte in meine Nase und unwillkürlich erinnerte ich mich an mein eigenes Zuhause. Das Häuschen, in dem ich aufwuchs und dass die Schergen von Schappner in Schutt und Asche gelegt hatten. Und das alles in der Zukunft, nicht in der Vergangenheit. Mir wurde schwindelig bei diesen Überlegungen, und ich schimpfte mit mir selbst: »Reiß dich zusammen! Du hast jetzt einen wichtigen Zauber vor dir. Wenn du den versemmelst, bringst du deine ganze Familie in Gefahr!« Ich nickte, als würde ich mir selbst zustimmen. Dann ging ich wieder ins Haus und betrat den magischen Kreis, den Hekate in der Mitte der Wohnstube mit Salz bereits gezogen hatte. Als ich neben ihr stand, verschloss sie die Lücke, die sie mir extra gelassen hatte. In jeder Himmelsrichtung standen vier weiße Kerzen.
»Lass uns beginnen, die große Mutter allen Seins anzurufen.«
Ich nickte, übergab meiner Ahnin eine Rose, behielt eine in der Hand, und legte den Rest zu unseren Füßen ab, dann hob ich, genau wie Hekate, die Blume über meinen Kopf.
Hekate rief die Göttin an:
»Bei unserem Ruf, laut unserer Sitte,
bringen wir dir Rosen, mit unserer Bitte:
Dem Haus deinen Schutz zu leihen,
damit das Gute kann gedeihen.
Das Wohl uns hier am Herzen liegt,
auf dass dein Segen jetzt geschieht.«
Ein Windhauch verwirbelte unsere Haare. Gaia hatte unsere Bitte empfangen. Hekate und ich nickten uns zu und legten die beiden Rosen in der Mitte zwischen uns ab.
Ich wollte gerade den Kreis verlassen, als meine Urgroßmutter mich mit festem Griff zurückzog. Es tat richtig weh, und ich unterdrückte einen Aufschrei. Sie lockerte den Griff, und ich rieb über meinen Arm. Hatte ich etwas vergessen? Ich wollte sie fragen, folgte aber automatisch ihrem Blick, der zu den vier Kerzen und den Rosen wanderte. Ihr Blick war vorwurfsvoll, als hätte ich einen Fehler gemacht, und dann fiel es mir siedend heiß ein. Wie konnte mir nur so ein Fehler unterlaufen? Ich hatte tatsächlich vergessen, dass wir die vier Elemente auch noch bitten mussten. Verlegen strich ich meine Haare nach hinten und spürte, wie meine Wangen heiß anliefen.
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