einfach dort liegen zu lassen.«
»Nein, das ist es nicht, mein Freund.« Die Stimme des Kommandeurs
klang wehmütig. »Doch dies ist Jalanne. Das vergangene Reich. Die Toten
würden es nicht anders wollen.«
Der Hauptmann zögerte einen kurzen Moment. Schließlich nickte er und
gab das Zeichen zum Abritt. Die Spur der Bestien war nicht zu übersehen. Je
weiter die Männer nach Osten trabten, desto weniger gefiel dem Offizier
dieser Umstand. Es war zu einfach. Und immer wenn es einfach begann,
endete es beschwerlich.
Der Mann wirkte trotz seiner vierunddreißig Jahre jugendlich, solange man
nicht in seine Augen sah. In ihnen lag der Blick eines Menschen, der in
seinem Leben zu viel Leid und Tod erlebt hatte. In den sanften Ausdruck
mischten sich Trauer und Müdigkeit. Fast die ganze Nacht hatte er über
Büchern verbracht und seine Zeichen auf Schriftrollen gesetzt. Nur eine
Brennsteinlampe hatte etwas Licht und Wärme gespendet, und nun, da der
Mann seine Arbeit getan hatte, seufzte er leise und blickte von seinem
Schreibtisch auf. Er wirkte fast ein wenig überrascht, als er in den Fenstern
den ersten Schimmer des Morgenrots sah. Mechanisch drehte er an der
Stellschraube, die die Abdeckung der Lampe über das Brennbecken senkte,
und der sanfte gelbe Schein erlosch.
Gegenüber dem Schreibtisch war ein leises Knarren zu hören, als sich eine
Gestalt in einem der gepolsterten Lehnstühle bewegte. Ein goldener Stirnreif
mit dem Symbol des Pferdevolkes blitzte auf im Licht des heraufbrechenden
Morgens, und ein ebenmäßiges Antlitz, umrahmt von langen blonden Locken,
wandte sich dem Mann zu. Die Hohe Dame Larwyn, Witwe des Pferdefürsten
Garodem und Mitregentin der Hochmark, war noch immer eine
bemerkenswert schöne Frau. Ihre Augen waren im Schatten verborgen, als sie
Nedeam ansah, und ihre Stimme klang sanft. »Fertig, Hoher Herr?«
Nedeam, Erster Schwertmann der Hochmark und Befehlshaber ihrer
Pferdelords, lächelte müde. »Nennt mich nicht so, Hohe Dame. Es ist mir
lieber, wenn Ihr mich weiterhin mit meinem Namen anredet.«
»Ich nenne Euch weit mehr, Nedeam.« Larwyn beugte sich leicht vor, und
ihr lächelndes Gesicht tauchte nun ganz in das Licht des Morgens. »In den
letzten drei Jahreswenden habt Ihr Euch als guter Freund erwiesen. Ihr steht
mir und der Mark getreu zur Seite. Garodem wäre stolz auf Euch.«
In den letzten Worten schwang Trauer mit. Sie vermisste ihren Gemahl
Garodem und sorgte sich um Garwin, ihren Sohn, der so wenig nach dem
Vater geraten war. Nedeam hatte sich lange gefragt, warum die Hohe Dame
so oft in der Nacht in den Amtsraum des Pferdefürsten kam, obwohl sie nur
selten das Gespräch mit ihm suchte. Inzwischen wusste er es. Der Erste
Schwertmann richtete sich auf und erhob sich hinter dem Schreibtisch.
Nachdenklich strich seine Hand über das alte Holz. Garodems Schreibtisch in
Garodems altem Amtsraum. Alles hier atmete noch immer seine Gegenwart,
obwohl nun offiziell Garwin an diesem Ort regierte. Der junge Pferdefürst
war keineswegs erfreut gewesen, als Larwyn dem Ersten Schwertmann die
Erlaubnis gegeben hatte, den Raum uneingeschränkt zu nutzen.
Zähneknirschend hatte Garwin sich dem Argument seiner Mutter gebeugt,
dass sie sich gelegentlich mit Nedeam besprechen müsse und man ihr
schwerlich zumuten könne, dafür dessen kleine Kammer aufzusuchen.
»Ich vermisse den Hohen Lord«, gestand der Erste Schwertmann ein. Es
war klar, dass er damit nicht Garwin meinte. »Es war ein weiter Weg vom
Wolltierzüchter zum Ersten Schwertmann der Mark. Ein beschwerlicher Weg,
und manchmal weiß ich nicht, ob ich nicht besser auf dem Gehöft meines
Vaters geblieben wäre.« Er deutete auf den Schreibtisch. »Das Arbeiten mit
Büchern und das Setzen und Deuten der Zeichen liegen mir nicht besonders.«
»Ihr hattet gute Fürsprecher, Nedeam, und Ihr habt sie immer noch.« Auch
Larwyn erhob sich nun und seufzte leise, als sie sich nach dem langen Sitzen
streckte. »Tasmund, den braven Mann Eurer Mutter Meowyn, Euren
Vorgänger als Ersten Schwertmann. Kormund, den bewährten Scharführer.
Und vergesst nicht Euren Freund Dorkemunt, den kleinen Pferdelord. Sie alle
schlugen Euch vor, und mein Gemahl hat ihnen von Herzen zugestimmt.«
Garodem hatte die Hochmark einst gegründet. Nun war er seit drei Jahren
tot. Nicht ruhmreich in der Schlacht gefallen, sondern auf einer Treppe zu
Tode gestürzt. Ein sinnloses Ende, aber die Menschen des Pferdevolkes
hatten Garodems Tapferkeit immer geachtet und wussten, dass er nun in allen
Ehren zwischen den Goldenen Wolken ritt.
»Ich bin dankbar für dieses Vertrauen, Hohe Dame, und ich weiß, dass die
Versammlung der Schwertmänner meiner Wahl bereitwillig zugestimmt hat.
Doch manchmal glaube ich, dass ich für Euch und die Mark zu einer Last
werde.«
»Ich verstehe.« Larwyn legte ihre Hand sanft an seinen Oberarm. »Ihr
meint den Zwist zwischen Euch und Garwin, nicht wahr?«
Die Mark war an Garodems Sohn übergegangen. Der
Zweiundzwanzigjährige bereitete auch Nedeam große Sorgen. Er war
eigensinnig, arrogant und zudem rechthaberisch. Es war ein weiser Entschluss
des Königs Reyodem gewesen, Larwyn ihrem Sohn an die Seite zu stellen.
Obwohl Garwin Pferdefürst und damit eigentlich der uneingeschränkte
Herrscher der Hochmark war, verfügte seine Mutter über ein Einspruchsrecht.
Und zu Garwins Verdruss machte sie durchaus Gebrauch davon. Nedeam
musste sich eingestehen, dass er seinem neuen Vorgesetzten gegenüber eine
tiefe Abneigung empfand. Jeder Kämpfer des Pferdevolkes mochte seine
Eigenheiten haben, aber ihnen allen war es eine Ehre, den grünen Umhang
der Pferdelords zu tragen. Er war das Symbol ihrer Treue zur Mark und zu
ihrem Fürsten. An Garwin hingegen war nur wenig Ehrenhaftes. Schon als
Siebzehnjähriger hatte er sich geweigert, der bedrängten Hafenstadt
Gendaneris und den zur gleichen Zeit bedrohten Elfen beizustehen. Damals
hätte man es vielleicht noch seiner Unerfahrenheit zuschreiben können, doch
nur zwei Jahre später war Nedeam mit seinen Pferdelords in der Festung
Niyashaar von den Truppen der Mark abgeschnitten worden. Garwin hatte
gezögert einzugreifen, obwohl ein überwältigender Angriff der Orks
bevorstand. Für einen wahren Pferdelord gab es nichts Schändlicheres, als
einen Kameraden oder einen Verbündeten im Stich zu lassen. Doch eben
dieser Makel haftete nun Garwin an. Immerhin konnte man ihm keine
Feigheit vorwerfen. Vielleicht hatte König Reyodem recht darin getan, ihn als
Pferdefürsten zu bestätigen. Garwin mochte sich noch entwickeln und
bewähren.
Doch Nedeam zweifelte daran.
Und auch wenn ihm die Arbeit mit den Schwertmännern Spaß machte, so
vermisste er doch hin und wieder das einfache Leben auf dem Gehöft, die
Gesellschaft Dorkemunts und den Umgang mit Wolltieren und Hornvieh. Aber
er konnte nicht so einfach zurück. Er trug Verantwortung gegenüber der Mark
und der Hohen Dame Larwyn. Er durfte sie nicht Garwins Willkür ausliefern.
Denn was Nedeam niemals für möglich gehalten hätte, war eingetreten.
Garwin hatte Anhänger im Pferdevolk und sogar unter den Schwertmännern
gefunden. Es waren nicht viele, doch Nedeam wusste, dass ein einziger fauler
Apfel einen ganzen Korb verderben konnte.
Für eine Weile herrschte Schweigen im Amtsraum des Pferdefürsten, und
beide Anwesenden ahnten, dass ähnliche Sorgen sie bedrückten. Erneut war
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