Himmelsbach sah diese Wolkenbilder, gleich, wann oder wo er zum Himmel blickte, und oft verstrich die Zeit dabei so sehr, dass er alles um sich herum vergaß. Er hatte diese Gabe und seine Bekannten beneideten ihn darum. Wenn er es darauf anlegte und sie dazu animierte, mit ihm Gebilde zu erkennen, zogen sie stets den Kürzeren.
Aber nicht nur das Schattenspiel der Wolken weckte in ihm diese kreativen Eigenschaften. In Bäumen, Sträuchern oder in dem Gewirr von Grasbüscheln konnte er Gesichter erkennen oder auch manchmal Tiere, frontal, von der Seite oder im Profil. Er machte sich dann oftmals den Spaß, nach der Entdeckung wegzusehen, um dann erneut die Stelle zu suchen, wo sein Gehirn das Gebilde hatte entstehen lassen. Meist hatte er Erfolg, fand das Produkt seiner Vorstellung tatsächlich wieder und freute sich spitzbübisch darüber.
Heute stand er wieder einmal am Ufer des belebten Flusses und schaute erst dem Spiel des Wassers zu, dann aber hatten es ihm die Wolken angetan. Während er nach oben sah und nach einem weiteren Gebilde seiner Fantasie suchte, traf ihn der Strahl der plötzlich durch die Wolken brechenden warmen Sonne und blendete für einen kurzen Moment seine Augen.
Er fuhr mit den Händen über die geschlossenen Lider, kniff die Augen mehrmals zusammen, als wolle er krampfhaft Dunkelheit herbeizaubern und öffnete sie langsam wieder. Dabei vermied er es, wieder nach oben zu sehen. Er ließ seinen Blick über den Fluss gleiten, sah nach links zur Brücke, dann nach rechts über die endlos scheinenden Baumreihen entlang des Uferweges.
Dann glitt sein Blick wieder zurück, tastete sich am Ufer entlang. Ein kleines Schiff, mit lachenden Passagieren besetzt, offensichtlich Touristen, verursachte Wellen, die sich bis zum Ufer bewegten und das, was sich im Wasser befand, hin und her wiegten.
Sein Blick blieb auf einem großen Stück Treibholz, wie er glaubte, haften, doch irgendwie verhielt sich das, was dort schwamm, anders. Es blieb nicht starr wie ein Stück Holz, sondern bog sich mit jeder Welle in der Mitte und passte sich der am Ufer brechenden Wogen an.
Da er jedoch nicht genau erkennen konnte, worum es sich bei dem Gegenstand handelte, kam er auf die Idee, seinen digitalen Fotoapparat, seine neueste Errungenschaft mit großem Zoom, seiner Brusttasche zu entnehmen, und nach kurzer Orientierung hatte er das Objekt vor seinen Augen. Dann stutzte er und drehte am Stellring seines Teleobjektivs. Nun hatte er das, was er erst für einen Baumstamm gehalten hatte, deutlich vor Augen. Es war kein Baumstamm. Es war ein Mensch der sich dort willenlos, auf dem Bauch treibend, dem Spiel der immer wieder neu ankommenden Wogen hingab.
Das herannahende Brummen eines Motorbootes, das in Ufernähe offensichtlich den nahe gelegenen Bootshafen ansteuerte, lenkte seinen Blick für kurze Zeit in dessen Richtung. Seine Augen folgten dem Verlauf des Bootes bis auf die Höhe des Menschen, der durch den plötzlichen Wellenschwung eine Umdrehung um seine Längsachse machte. Dabei sah er sein Gesicht. Für kurze Zeit blickte er zwei aufgerissene Augen in einem aufgedunsenen, dunklen Gesicht, bevor sich der leblose Klumpen von ihm wegdrehte und Arme und Gesicht wieder in dem sich langsam beruhigenden Wasser verschwanden.
Dienst ist Dienst …
Julian Thalbach verzog für einen Moment schmerzverzerrt das Gesicht und betrachtete im Spiegel, wie sich ein Blutstropfen oberhalb seines linken Wangenknochens löste und langsam eine Spur bis hin zu seinem Mundwinkel zog. Er stützte sich mit beiden Händen auf dem Rand des Waschbeckens ab und beobachtete, wie erst dieser Tropfen und dann noch einer in das vom Rasierschaum geschwängerte Wasser eintauchten und dann verschwanden.
„Ein beschissener Tag!“ Thalbach schüttelte den Kopf, als könne er mit dieser Bewegung schlechte Geister verjagen und spülte die Rasierklinge in dem schaumigen Wasser ab. Sein skeptischer Blick wanderte nach oben und schließlich stand er Auge in Auge seinem Spiegelbild gegenüber.
„Was siehst du mich so an, du alter Sack?“ Er schnitt eine Grimasse, fuhr sich durch die immer heller und spärlicher werdenden braunen Haare, zeigte die Zähne und kniff die Augen zusammen.
„49 Jahre, sieht man dir eigentlich nicht an. Oder?“
Vor wenigen Tagen war sein Geburtstag gewesen, den er im kleinen Rahmen gefeiert hatte. Eigentlich war es eine Feier von zwei Personen gewesen, ihm selbst und Antoinette, seiner Frau, die er liebevoll Nette, die Liebenswerte, nannte, Und in irgendeiner Weise war es sogar ein doppelter Geburtstag. Nette hatte eine Krebstherapie erfolgreich über sich ergehen lassen müssen. Der behandelnde Arzt hatte sie mit den Worten entlassen: „Leben Sie Ihr Leben, die Krankheit hat sich zurückgezogen. Kommen Sie zu den regelmäßigen Kontrolluntersuchungen. Aber denken Sie immer daran, sie kann es sich jederzeit überlegen und zurückkommen, unverhofft. Aber es kann auch so bleiben, wie es ist. Machen Sie das Beste daraus und denken Sie positiv.“
Thalbach lächelte. Er kannte seine Nette zu gut. Natürlich hatte sie sich vorgenommen, das Beste daraus zu machen und so hatte sie mit Julian dessen Geburtstag gefeiert, als sei es ihr eigener gewesen.
Und er selbst? Dieses Zusammensein war Balsam für sein Gewissen, das sich immer dann regte, wenn er Nette ein Versprechen machte und dieses aus dienstlichen Gründen nicht einhalten konnte. Viel zu selten war es in der Vergangenheit vorgekommen, dass ein pünktlicher Dienstschluss ihr Zusammenleben erleichtert hätte. Doch Nette trug es mit Fassung und Verständnis für seinen Beruf. Allein, dass er sich gerade jetzt, nach ihrer Intensivbehandlung, mehr um sie kümmern wollte, machte sie glücklich. Dennoch wusste sie heute schon, dass auch in Zukunft keine Änderung der gewohnten Situation eintreten würde. Thalbach liebte seinen Beruf und er würde Tage und Nächte opfern, um zu einem Erfolg zu kommen, das war auch Nette bewusst.
Thalbach löste den Blick von seinem Spiegelbild und öffnete eine Schublade des Waschtischs. Er kramte missmutig eine Zeitlang darin, bis er das Gewünschte in der Hand hielt: einen blutstillenden Alaunstift. Er führte die Spitze an die kleine Wunde und zuckte bei der schmerzhaften Berührung kurz zurück, ehe er die Zähne zusammenbiss und die Prozedur bis zum Ende durchführte.
Aus dem Wohnzimmer hörte er die Schläge der Standuhr. Halb sieben am Abend. Er musste sich beeilen. Nette wartete im Wohnzimmer auf ihn. Endlich hatte es sich einmal ergeben, dass sein Dienst nicht zwischen ihm und irgendwelchen privaten Vorhaben stand. Heute hatte er Nette zum Essen eingeladen. Sie hatten sich auf den Chinesen geeinigt, und so freuten sie sich auf Frühlingsrolle, süßsaure Hühnersuppe, Chop-Suey und andere Leckereien. Dazu einen Sake und vielleicht sogar einen guten französischen Wein, den es auch beim Chinesen gab. Es sollte aus seiner Sicht auch ein versöhnliches Dinner sein, eine Art Entschuldigung für viele versäumte Stunden und abgesagte Treffen, die den dienstlichen Belangen nachstehen mussten.
Es sollte ein schöner Abend werden.
Doch es kam anders.
Thalbach trocknete sein Gesicht ab und schaute nervös auf seine Armbanduhr. 18:40 Uhr. Er musste sich beeilen. Schnell schlüpfte er in Hose und Hemd, band seine Krawatte um, schnürte die Schuhe und kämmte abschließend das wellige Haar nach hinten. Er schnappte sich sein Jackett, warf es sich über den Arm, um sich nach nebenan zu Nette zu begeben.
Just in diesem Moment läutete das Telefon. Das Display des Smartphones zeigte das Konterfei von Oberkommissar Alexander Laufenberg, neben Kommissarin Simone Esslinger ein Kollege in seinem Team, mit dem er schon manche Schlachten geschlagen hatte. Er sah schulterzuckend zu Nette, die bereits jetzt resignierend die Arme anhob und sich erhob. Sie winkte Julian kurz zu, mit einem Lächeln, das ihre Enttäuschung verbergen sollte und schickte sich an, die Wohnung zu verlassen. Sie wohnte immer noch in ihren eigenen vier Wänden; sie wollten es beide so, und nur ab und zu trafen sie sich bei Thalbach und, eher selten, in der Wohnung Nettes.
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