Suspekte Kontakte
Er drückte den grünen Knopf auf seinem Smartphone und lauschte. Es war so abgesprochen. Er hatte sich erst dann zu melden, wenn sein Gesprächspartner es ihm erlaubte. Dann antwortete er, ohne seinen Namen zu nennen. Dieses Telefon war speziell für Anrufe dieser Art. Niemand anderes als die Person, die sich genau jetzt am anderen Ende der Leitung befand, hatte Zugang zu diesem Anschluss. Ihm selbst aber waren Rückrufe unmöglich gemacht worden. Eine Rufnummernspeicherung gab es nicht und im Sichtfeld handelte es sich um einen anonymen Anrufer.
„Es ist Nachschub angekommen“, hörte er die sonore Stimme, die, wie immer, einen dumpfen Unterton mit sich führte. Für ihn klang es, als werde die Sprechmuschel mit einem Tuch oder ähnlichem abgedeckt. Es war auch gut so. Er wollte nicht wissen, wer dort am Ende der Leitung war. Je weniger er wusste, desto gefahrloser war das Ganze für ihn.
„Ich weiß“, antwortete er.
„Unser Bedarf ist angestiegen“, hörte er die Stimme fortfahren. „Sieh zu, dass keiner von ihnen über vierzig ist. Hast du verstanden?“
„Ich habe verstanden.“ Er nickte, als könne sein Gesprächspartner ihn sehen.
„Du darfst nicht allzu lange warten. Zieh es durch, bevor die Registrierungen beginnen. Achte auf die, die sich davonstehlen wollen. Folge ihnen. Das wird der einfachste Weg sein. Sie werden nie existiert haben. Ich erwarte Vollzug. Bald!“
Er nickte erneut und wollte seine Bestätigung mündlich abgeben. Doch die Leitung war bereits tot, so tot, wie er es sein würde, wenn er seinen Auftrag nicht zur Zufriedenheit des Anrufers ausführen würde.
Er verstaute sein Mobiltelefon, rückte die Jacke seiner Uniform gerade und ging seiner Arbeit nach.
Folge denen, die sich davonstehlen wollen. Diese Worte hatte er noch im Ohr. Das würde nicht schwer sein. Er verfolgte immer nur diejenigen, die sich davonstahlen, um einer Registrierung zu umgehen. Der Augenblick allerdings war mehr als günstig. Die Registrierungen hier in dieser Einrichtung gingen schleppend voran. Es fehlte am Personal insbesondere für diese Tätigkeit. Also wurden die Neuankömmlinge erst einmal in ihre Wohnbereiche eingewiesen, um irgendwann erfasst zu werden. Es war keine gute Lösung, aber er, sein Kumpel und viele andere profitierten davon. Ihm konnte es nur mehr als recht sein, wenn sich das Prozedere hinauszögerte. Wer nicht registriert wurde, den vermisste auch niemand. Und wer nicht vermisst wurde, nach dem suchte niemand. Sollte dieser Zustand noch lange anhalten. Er wusste, wieder einmal, was zu tun war.
Kapitel acht
Von Lampedusa nach Alemannia
Zehn Tage zuvor
Zwei Tage waren vergangen, als sie im italienischen Lampedusa angekommen waren. Die Rettung der Schiffbrüchigen durch die Küstenwache hatte eine Hoffnung beseelt, die noch am selben Morgen zerstört werden sollte.
Die Freude war riesig, als die Männer das Schiff der Küstenwache auf sich zukommen sahen. Eine Leine wurde ihnen zugeworfen und zahlreiche Hände griffen danach und zogen das Boot langsam dem Schiff entgegen, bis es längs an dessen Seite lag.
Ein Fallreep wurde ausgeworfen, und einer nach dem anderen hangelte sich über die kräftige Strickleiter nach oben auf das fremde Deck, wo ihnen sogleich warme Decken und heißer Tee angeboten wurden.
Dass das mit der Verständigung nicht funktionierte, war vorerst nicht relevant. Die Flüchtlinge hatten nur eines im Sinn: schlafen. Wenn sie vorher etwas zu essen bekämen, umso besser.
Eine Stunde später trieben die Motoren das Schiff in Richtung Küste, das Boot der Flüchtlinge im Schlepptau, dem ersehnten Lampedusa entgegen.
Der Hafen kam in Sicht, und dann geschah das Unerwartete. Die Maschinen stoppten und das Schiff wurde von den Wellen hin und her geschaukelt.
„Was ist los?“ Ahmed sah Yussuf fragend an. Der zuckte mit den Schultern. „Wir werden es gleich erfahren.“
„Aber wir verstehen sie doch nicht“, warf Bashir ein.
„Na ja, soweit reicht mein Englisch vielleicht noch“, lächelte Yussuf. „Warten wir es ab.“
Die Zeit verging und kaum einer der Geflüchteten machte sich Gedanken über die Wartezeit. Die meisten waren auf dem Boden, eingehüllt in Decken, eingeschlafen, andere starrten lethargisch vor sich hin.
Dann kam Bewegung in die Situation. Ein hochaufgeschossener Mann in Uniform der Küstenwache stellte sich vor diejenigen, von denen er glaubte, dass sie ihm zuhören würden.
„Versteht mich einer von euch?“ rief er in einer Sprache, die sie nicht kannten, über die Köpfe der Männer hinweg. Niemand antwortete ihm.
„Spricht jemand Englisch?“
Es kam erneut keine Reaktion. Da hob Yussuf die Hand. „Ich spreche etwas Englisch“, antwortete er, und es klang genauso, wie er es sagte: nach etwas.
„Ich werde langsam sprechen“, sagte der Uniformierte. „Es ist Folgendes: Man verwehrt uns die Ankunft im Hafen.
„Warum das?“, fragte Yussuf zurück. „Wir können doch nicht hier auf dem Meer bleiben.“
„Ich kann Ihnen den Grund nicht nennen. Noch nicht“, antwortete der Uniformierte.
Yussuf überlegte. Seine Leute mussten an Land. Sie brauchten zum Teil ärztliche Versorgung und ein Bett, in dem sie sich ausschlafen konnten. Er beschloss, zu drohen.
„Dann werden wir hinüber schwimmen Alle. Doch nicht alle werden ankommen. Sie sehen ja, in welchem Zustand sich die Männer befinden. Sagen Sie das denen am Ufer. Wir werden es tun. Und die Verantwortlichen werden ihren Kopf dafür hinhalten müssen. Reden Sie mit ihnen. Ich meine es ernst.“
Yussuf erschrak über sich und seine Worte, doch sogleich erfüllte ihn Stolz. Vielleicht hatte sein Bluff sogar Erfolg.
Der Uniformierte nickte, zog die Schultern vielsagend hoch und verschwand.
„Wir sollen ans Ufer schwimmen, Yussuf?“, fragte Bashir und Angst stand in seinen Augen.
„Ich hoffe, es wird nicht dazu kommen,“ sagte Yussuf und lächelte. „Warten wir es ab.“
*
Am nächsten Tag war in der italienischen Presse zu lesen:
„ Italiens Innenminister hatte am Samstag nach langem Streit rund 50 männliche Flüchtlinge auf der Insel Lampedusa an Land gehen lassen. Die dramatische Lage auf einem Schiff der Küstenwache spitzte sich auf hoher See zu, als verzweifelte Migranten ins Meer sprangen, offenbar in dem Versuch, die nahe gelegene italienische Insel Lampedusa schwimmend zu erreichen.
Tod in der neuen Heimat
Leonhard Himmelsbach stand an der der Kaimauer am Fluss und hatte seine Augen in die Ferne gerichtet. Er ließ seine Gedanken treiben, so, wie er es gerade an dieser Stelle an vielen Tagen der Woche tat. Sein schmaler Oberkörper ruhte auf seinen schmächtigen, angewinkelten Unterarmen, mit denen er sich auf der Mauerbrüstung abstützte, die ihn von der abfallenden Böschung und dem Fluss trennte. Seine Blicke folgten den schreienden Vögeln, die sich gegenseitig zu verfolgen schienen und Haken schlagend, teils im Sturzflug, teils schwebend, die Lüfte beherrschten.
Er blickte hinauf zum Himmel, zu den dichten Wolken, die der Sonne heute kaum Gelegenheit gaben, ihr wärmendes Licht über der Stadt zu verteilen. Es zog ihn magisch immer wieder hierher und immer wieder sah er dann nach oben empor, und er war stets erfreut, wenn sich der Himmel bewölkte.
So war es auch an diesem Nachmittag. Sein Blick glitt über die Gebilde der Wasser tragenden Massen, um hier und da inne zu halten. Dann verengten sich seine Augen für einen kurzen Moment, bis sich schließlich seine schmalen Lippen zu einem Lächeln auseinanderzogen.
Dieses Mal war es ein Hundekopf, den er deutlich in dem Wolkengebilde dort oben vor sich zu sehen glaubte. Sein Blick glitt weiter und irgendwoher schaute ihn ein Frauenkopf mit langen Haaren lächelnd an.
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