„Ich wollte es nur gesagt haben.“ Wegener hob die Hand zum Gruß. „In meinem Bericht ist alles so weit aufgeführt. Der Tote wurde in die Gerichtsmedizin gebracht, polizeiliche und ärztliche Leichenschau sind erledigt. Die weiteren Ermittlungen liegen bei Ihnen. Auf mich wartet ein ruhiger Restsonntag.“ Wegener winkte seinem Kollegen zu, der sich erhob und mit ihm gemeinsam das Büro verließ.
„Was meint er mit 'Wasser auf die Mühlen'? Das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun.“ Simone Esslinger stand betont langsam hinter ihrem Schreibtisch auf und näherte sich ihrem Chef. „Darf ich die Akte sehen?“
Thalbach nickte. Er hatte die Akte selbst noch nicht einmal aufgeschlagen, er musste dies auch nicht tun. Was Wegener gesagt hatte, reichte ihm.
„Wasser auf die Mühlen? Können Sie sich das nicht selbst vorstellen?“ Es klang barsch und irgendwie wütend. „Alles, was wir sagen oder schreiben, wird man auch zwischen den Zeilen lesen werden. So neutral wie wir auch sein wollen, ein Teil unserer wahren Gedanken wird sich zwischen den Worten unserer Berichte festsaugen und wir müssen jedem dahergelaufenen Laien Rede und Antwort stehen.“
„Müssen wir das?“ Alexander Laufenberg hatte bis zu diesem Zeitpunkt aus dem Fenster gesehen und sich in seinen Gedanken vorgestellt, wie ruhig es noch vor einigen Monaten in dieser Stadt gewesen war. Aber die Willkommenskultur der Regierung hatte dazu geführt, dass man sogar großzügig über die Ausführung der Gesetze nachdenken musste. So jedenfalls wurde es latent von oben herab transportiert. „Also, ich werde mich da nicht verbiegen lassen. Im Übrigen haben wir hier einen Mordfall, wie es ihn tausendmal gibt. Der einzige Unterschied ist, dass sich die Schusslöcher in schwarzer Haut befinden.“
„Meine Herren, diese Diskussionen haben, zumindest in diesem Moment, keinerlei Platz in dem, was wir vorhaben.“ Simone Esslinger klappte die Mappe zu, steckte ihre Pistole ins das Holster an ihrer Jeans und schnappte ihre Schultertasche, die über der Stuhllehne hing. „Wir sollten uns den Mann mal ansehen. Fotos alleine werden unsere Ermittlungen nicht ersetzen.“
Thalbach nickte. Doch mit einer Handbewegung stoppte er Simone, die an ihm vorbeieilen wollte. „Wir müssen überlegen, wo wir unsere Ermittlungen ansetzen. Der Mann hat keinerlei Ausweispapiere. Vielleicht hat man sie ihm abgenommen, vielleicht besitzt er gar keine. Ist er ein Bürger dieser Stadt? Ich meine, dass er eine schwarze Hautfarbe hat, besagt ja nicht, ...“
„Dass er einer der Flüchtlinge aus dem Übergangsheim ist?“ Laufenberg zuckte mit den Schultern. „Davon ist aber auszugehen. Ich gehe sogar noch weiter und behaupte, dass er erst seit Kurzem dort untergebracht war.“
„Woher haben Sie diese Erkenntnis?“ Thalbach zog die Stirn in Falten. Manchmal kam ihm Laufenberg vor wie ein junger Wilder, der in der angepassten Polizeiwelt noch nicht so richtig angekommen zu sein schien.
„Sehen Sie sich die Fotos doch einmal näher an! Fällt Ihnen nicht auf, dass seine Kleidung, die mir afrikanischer Herkunft scheint, zerschlissen, um nicht zu sagen ramponiert, ist?“
„Ich verstehe nicht. Was wollen Sie mir damit sagen?“
„Ich möchte zum Ausdruck bringen, dass, wenn er in dem Übergangs-Wohnheim untergebracht gewesen wäre, dort auch andere Kleidung erhalten hätte.“
Thalbach schüttelte den Kopf. „Wie auch immer. Wir werden dort eh Menschen befragen müssen. Er sah Simone an. „Sie werden sich um die Leiche kümmern. Machen Sie jede Menge Fotos, auch Nahaufnahmen von seinem Gesicht und auch von den Schussverletzungen. Sehen Sie nach, ob es besondere Merkmale an der Leiche gibt. Sie wissen schon: Fehlende Finger, Abnormitäten. Und machen Sie einen DNA-Test.“
„Wofür soll der denn gut sein?“ Thalbach blickte in das erstaunte Gesicht Laufenbergs. „Mit wem, zum Teufel, wollen Sie die denn vergleichen?“
„Machen Sie es einfach“, wandte er sich Simone zu. „Laufenberg und ich werden uns im Übergangs-Wohnheim umhören. Es ist besser, wenn Sie dort fernbleiben. Denken Sie an die Vorfälle auf dem Kölner Bahnhofsvorplatz. Ich habe keine Lust, Sie dort gegen Testosteron geladene Männer verteidigen zu müssen.“
„Was ist eigentlich mit Ihnen passiert?“ Simone zeigte auf die kleine Schnittverletzung im Gesicht Thalbachs.
„Ist nicht weiter schlimm.“ Thalbach grinste. „Ich habe aus Versehen in den Spiegel geschaut, da ist es eben passiert.“
Wo sollen wir hin?
Ahmed und Bashir hatten das Übergangswohnheim hinter sich gelassen und als Bashir sich ängstlich umdrehte, stellte er erleichtert fest, dass das Gebäude außerhalb ihres Sichtfeldes lag. Offensichtlich war Ihnen auch niemand gefolgt. Ob ihr Verschwinden überhaupt registriert wurde? Wenn sie doch niemand gesehen hatte, dann waren sie doch nie dort gewesen.
Dass die Anzahl der Flüchtlinge, die mit dem Bus angekommen waren, aber festgehalten worden war, dieser Gedanke kam bei den beiden nicht an.
Bei ihrer Flucht gab es zwei Möglichkeiten, die ihnen zur Verfügung standen: der Weg hinunter in die verkehrsreiche Innenstadt oder aber die entgegengesetzte Richtung, wo sich die Stadt ins weite Land verlief, wo es vereinzelt Weinberge gab, die nach einiger Zeit in bebautes Flachland mündeten.
„Wir müssen einen Unterschlupf finden für die kommende Nacht“, sagte Ahmed. „Dann können wir auch überlegen, wie es weitergehen soll.“
„Ich habe Hunger, Bruder“, antwortete Bashir. „Wir haben lange nichts gegessen. Wo sollen wir etwas herbekommen?“
„Wir werden nach Früchten suchen. Irgendetwas Essbares wird doch hier wachsen. Komm, da hinauf!“
Ahmed zeigte auf eine Anhöhe, auf der man Wein angebaut hatte. „Vielleicht sind die Weintrauben schon reif.“
„Im September? Ist das nicht zu früh? Wir könnten krank werden.“
Ahmed sah seinen Bruder lächelnd an. „Wir werden krank, wenn wir nichts essen.“
So irrten sie durch eine Landschaft, wie sie zuvor nie eine sahen, ernährten sich von Weintrauben und Äpfeln, und irgendwann kamen sie auf einer Anhöhe an, von der man auf der einen Seite über die Stadt schauen konnte. Auf der gegenüberliegenden Seite fielen ihre Blicke ins Tal, wo ihnen mehrere Ortschaften ins Auge fielen, umgeben von Flur, Wiesen und Wald. Ein Anblick, der so anders war als die Dürre in ihrer Heimat und das Elend auf den Straßen und in den Häusern.
„Es ist schön hier“, flüsterte Bashir andächtig. „Wenn das unsere Mutter und unsere Schwestern sehen könnten.“
„Wir können nicht ewig umherziehen, Bashir“, sagte Ahmed plötzlich. „Wir brauchen eine Bleibe.“
„Du willst doch nicht zurück in das Wohnheim“, klagte Bashir und sah seinen Bruder groß an. „Was sollen wir deiner Meinung nach tun?“
Ahmed überlegte kurz. Dann wirkte er entschlossen. „Wir werden zurückgehen … nein, keine Sorge“, wehrte er den geplanten Einwand seines Bruders ab. „Wir werden vorsichtig sein. Niemand von der Security darf uns bemerken. Wir müssen mit denjenigen reden, die schon länger dort wohnen. Landsleute. Es sind sicherlich welche unter ihnen. Sie kennen sicher Leute in der Stadt, die uns weiterhelfen können.“
Sie blieben noch einige Stunden dort oben und erfreuten sich an den für sie neuen Eindrücken. Als es zu dämmern begann, machten sie sich auf den Rückweg, schlichen an den Häusern der Innenstadt entlang, stets darauf bedacht, keiner Polizeistreife, oder, was noch schlimmer gewesen wäre, der Security des Wohnheims in die Hände zu laufen.
Aus sicherer Entfernung beobachteten sie das Treiben der Migranten auf dem eingezäunten Vorplatz des Gebäudes. Vor dem Eingang lehnten mehrere stiernackige, durchtrainierte Männer in Uniform, Mitglieder der Security, und unterhielten sich, ohne groß ihre Blicke auf die in Gruppen Umherstehenden zu richten.
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