Allerdings konnte der Wachmann ihm kein Tavor spritzen, wenn er ihn zu fassen bekam. Wie wollte er denn den wildgewordenen und schwerkranken Mann ins Krankenhaus zurückbekommen, ohne ihn zu verletzen? So ein Mist aber auch! Tom zögerte. Der Regen begann, in seinen Haaren zu gefrieren.
Unschlüssig kehrte er um und näherte sich der Ansammlung leerstehender Gebäude. Es handelte sich um riesige, mehrflügelige, villenartige Gemäuer. 3 – 4 Stockwerke mit teilweise zerbrochenen Fensterscheiben blickten düster auf ihn hinab. Kohlrabenschwarze Finsternis herrschte darin.
Im Schein der Solarlampen des Patientenparks nahm er die Fassaden der Häuser und den liebevoll verzierten Putz wahr. Der Stuck hatte sicher einmal sehr schön ausgesehen, bevor alles anfing, zu zerbröckeln. So würde man heute nie im Leben ein Krankenhaus bauen! Kleine Erker und Türmchen krönten die Dächer der Anlage. Um die Außenmauern liefen breite Veranden mit wuchtigen, marmornen Säulen.
Das waren keine alten Klinikgebäude, das war ein verdammtes Spukschloss!
Jetzt sah er in den Fenstern des nächsten Gebäudes ein Licht aufblitzen. Das musste die Taschenlampe des Wachmannes sein. Der hatte doch Herr Jungk nicht etwa bis in die Ruine verfolgt? Naja, da drin war es wenigstens trocken.
Unter einem Vordach über einer breiten Treppe lag der Haupteingang des Hauses, gesäumt von zwei bulligen Säulen. Eine große, zweiflügelige Holztür, kunstvoll geschnitzt, stand sperrangelweit offen. An einem nachträglich angeschraubten Riegel hing ein massives Vorhängeschloss.
Tom stutzte. Wer hatte das Schloss aufgebrochen? Der Patient wohl kaum, der konnte clever, verrückt und stark sein, wie er wollte, ohne Werkzeug war dieses solide Vorhängeschloss unmöglich zu knacken. Lutz Meisters hatte es sicher auch nicht getan, denn der verfolgte ja Herr Jungk. Demzufolge musste die Tür schon offengestanden haben und der alte Mann war bei seiner Flucht einfach in das Gebäude geschlüpft.
Außer Atem erklomm er die Stufen und sah durch die Eingangstür. Undurchdringliche Dunkelheit. Er hatte keine Taschenlampe dabei, daher stand er unschlüssig in der aufgebrochenen Tür. Außer dem trommelnden Regen auf dem Vordach waren keine Geräusche zu hören. Vorsichtig wagte er sich zwei Schritte in das Dunkel der Ruine. Als seine Augen sich an das Zwielicht gewöhnt hatten, erblickte er eine ausladende Freitreppe innerhalb einer geräumigen Eingangshalle. Fenster neben und über der Tür ließen ein bisschen Licht von den Solarlampen auf dem Krankenhausgelände herein, doch er erkannte kaum etwas. Misstrauisch kam er näher und sah sich um. Dass er aus einer dunklen Ecke hinter der Eingangtür beobachtet wurde, merkte er nicht. Der schlanke Mann mit den schwarzen, zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haaren verschmolz durch seine schwarze Kleidung völlig mit der Umgebung.
Als oben auf der Freitreppe plötzlich eine weiße Gestalt auftauchte, hätte Tom fast aufgeschrien. Dann wurde ihm klar, dass er kein Gespenst sah, sondern Rudolf Jungk in seinem Krankenhausnachthemd. Er lief über eine Galerie am oberen Ende des Aufgangs. Als Tom hinaufhastete, stolperte er im Dunkeln über eine zerbröckelte Marmorstufe und schlug der Länge nach hin. Die Kanten der Stufen drückten ihm die Luft aus den Lungen.
Nachdem er sich keuchend aufgerappelt hatte, war der Patient weg. Natürlich ... Aber er musste in den Durchgang mit dem Bogen gehuscht sein, rechts von der Treppe. Mit schmerzendem Brustkorb eilte Tom die letzten Stufen hinauf und spähte hindurch. Vor ihm lag ein langer Flur. Auf der rechten Seite fiel durch zerbrochene Fenster ein dünner Lichtschein hinein, links ließ eine Reihe offenstehender Türen den Blick in nachtschwarze Räume fallen. Herrn Jungk konnte er nirgends entdecken. Langsam schlich er zum ersten Zimmer, doch darin herrschte undurchdringliche Dunkelheit. Es gab keine Lampen auf der Rückseite des Gebäudes, darum drang durch die Zimmerfenster auch kein Licht herein.
Ob der alte Mann da drin war?
Trotz der Kälte lief ihm der Schweiß in Strömen herab. Vielleicht auch das Regenwasser, das aus seinen Haaren tropfte. Oder beides ...
Ein würgendes Geräusch ließ ihn aufhorchen. Es kam aus dem nächsten Zimmer. Schnell rannte er hinüber und spähte vorsichtig durch den Türrahmen. Hinter ihm durchschnitt ein Taschenlampenstrahl die Finsternis. »Ah, Herr Pfleger! Haben Sie ihn?« Meisters war heraufgekommen und trat hinter Tom. Dieser deutete wortlos auf den schwarzen Türrahmen. Sie hörten ein erneutes Würgen und einen platschenden Laut. Ihm lief eine Gänsehaut über den Rücken.
Der Wachmann richtete den Strahl der Taschenlampe in den dunklen Raum und riss sogleich entsetzt die Augen auf. Tom erstarrte. Für einen Augenblick schien sein Herz auszusetzen.
Blut. Überall Blut. Das registrierte er als Erstes. Eine riesige Lache mitten im Zimmer. Im Schein der Lampe sah sie fast schwarz aus. Darin kniete Herr Jungk und sah sie mit schreckgeweiteten Augen an. Das weiße Krankenhausnachthemd glänzte jetzt blutrot. Todesangst lag in seinem Blick. Er krümmte sich und erbrach einen weiteren Schwall Blut. Es schienen Liter zu sein.
Oh Gott, dachte Tom. Bitte nicht ... Bitte nicht ... die Ösophagusvarizen ...
Der Mann würgte weiter und erbrach immer mehr. Die Lache der dunkelroten Flüssigkeit wurde größer. Lutz Meisters stand schreckensstarr im Türrahmen. Tom löste sich aus seiner Bestürzung und stieß ihn an. »Nun rufen Sie schon Hilfe, Sie Idiot!«
Der Wachmann blinzelte kurz und zog dann das Walkie-Talkie. »Meisters an Zentrale! Wir haben den stationsflüchtigen Patienten ins erste Ruinengebäude verfolgt. Er äh ... kotzt Blut ...«
»Warum macht der denn sowas?«, knarzte die Antwort.
Verärgert riss Tom ihm das Funkgerät aus der Hand und rief hinein: »Er hat eine Ösophagusvarizenblutung! Wir brauchen ein Notfallteam für eine sofortige Blutungsstillung! Sofort!«
Er ließ den Sprechknopf los und lauschte. »Eine was ...?«, drang aus dem Lautsprecher.
»Eine Ösophagusvarizenblutung! Geben Sie es an die Notaufnahme und die Intensivstation weiter! Er ist in wenigen Minuten tot!«
Herr Jungk verdrehte die Augen. Tom drückte dem Wachmann das Funkgerät in die Hand und lief zu seinem Patienten. Eine der durch die Leberzirrhose gestauten Venen in der Speiseröhre war geplatzt. Zusätzlich verkomplizierte die Blutgerinnungsstörung auch noch die Sache, die bei dieser Erkrankung häufig auftrat. Das Blut sprudelte in dem Moment nur so aus dem rupturierten Blutgefäß. Der Mann hatte keine große Chance.
Um zu verhindern, dass er auf die Seite fiel, riss Tom den Oberkörper des Patienten nach oben. Ohne jegliche Hilfsmittel konnte er hier nicht viel tun. Eigentlich nichts, um genau zu sein.
Herr Jungk erbrach wieder einen Schwall Blut, direkt über Toms Kasack. Er spürte, wie die Flüssigkeit warm den Stoff durchtränkte.
»Himmel ...«, war Meisters von der Tür zu vernehmen. Dann verschwand er. Wahrscheinlich lief er zum Gebäudeeingang. Durch die Flurfenster sickerte ein flackerndes blaues Licht herein. Mehr sah Tom nicht, denn der Wachmann hatte die Taschenlampe mitgenommen.
Vom Eingangsbereich kam ein Klappern. Helle Lampen blendeten ihn, als einige Sanitäter und Ärzte mit einer fahrbaren Trage in den Raum stürmten. Mit einem Schlag erfassten sie die Lage. Tom half, den Patienten auf die Trage zu hieven.
»Sengstakensonde!«
Ein Sanitäter zog einen weißen Schlauch aus seinem Koffer. Zügig, aber sorgfältig, führte der Arzt ihn Herrn Jungk in die Nase ein.
»Intubieren!«
Nachdem die Sonde zur Blutungsstillung an Ort und Stelle war, wurde der Patient intubiert. Die ganze Situation wirkte extrem surreal, was nicht zuletzt an der Umgebung und dem Taschenlampenlicht lag. Tom spürte, wie ihm schwarz vor Augen wurde. Um nicht umzufallen, wollte er sich gegen die Wand lehnen, doch da war keine Wand.
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