Verärgert drehte sie sich herum und sah Tom, der mit blutiger Stirn dastand, und Herr Jungk, der durch die Glastür am Ende der Station schlüpfte.
»Du liebe Zeit, Tom!«
Er reagierte nicht auf sie, sondern setzte an, den durchgedrehten Patienten zu verfolgen.
»Tom warte, du bist verletzt!«
Im Nu hatte er den Stationseingang erreicht und lief hindurch. Von hinten hörte er Monika, die immer noch telefonierte: »... gerade die Station verlassen ... unser Pfleger verfolgt ihn ...«
Der Krankenhausflur wirkte leer. Allerdings gab es nur eine dämmrige Beleuchtung und draußen war es schon dunkel, so, dass durch die Fenster kein Licht hereinfiel.
Etwa alle 10 Meter gab es in der Wand eine Nische mit einer Bank und einer großen Grünpflanze in einem Topf. Diese lagen im Dunkeln. Ca. 30 Meter weiter sah man die Glastür der nächsten Station, der Hals-Nasen-Ohren-Abteilung.
Aber so weit konnte Herr Jungk nicht gekommen sein, auch wenn er sich scheinbar mit einer unheimlichen, lautlosen Schnelligkeit bewegte! Wahrscheinlich versteckte er sich hinter einer der Pflanzen. Vorsichtig schlich Tom näher. Das Krankenhaus schien an der Beleuchtung zu sparen, die wenigen Lampen an der Decke leuchteten nur schwach und der größte Teil des Flurs lag im Schatten. Die Nischen waren gar nicht beleuchtet.
Mit einem Satz sprang er nach vorn. Die erste Nische war leer.
Voller Anspannung wischte er sich das Blut aus dem Gesicht, welches von seiner Stirn lief. Ein Scharren drang durch den Gang. Das musste er sein! Achtsam huschte Tom vorwärts. Als sich von hinten eine Hand auf seine Schulter legte, fuhr er mit einem Aufschrei herum. »Monika!«
»Tut mir leid ... wollte dich nicht erschrecken ...« Sie sah ihm ernst in die Augen, wie er sie selten sah.
»Was ist denn?«
»Ich habe mit dem Sicherheitsdienst und Dr. Hendrich telefoniert. Von der anderen Seite des Flurs kommt ein Wachmann. Hendrich hat 2 mg Tavor i.m. angeordnet. Ich war so frei, es aufzuziehen.« Monika drückte ihm eine Spritze und eine Sprühflasche Hautdesinfektion in die Hand. »Wenn der Wachmann ihn aufgehalten hat, hau es ihm einfach rein!«
Er nickte und nahm beides entgegen.
»Und lass mich wenigstens schnell die Platzwunde ...«
Eine Bewegung in Toms Augenwinkeln ließ ihn wieder herumfahren. Mit wedelndem Nachthemd flitzte eine große Gestalt lautlos den Flur hinunter. Er setzte zur Verfolgung an.
Für einen so kranken Patienten bewegte sich Herr Jungk erstaunlich flink. Das konnte nur an den langen Beinen liegen, denn Tom hielt sich selbst für besser in Form als ein langjähriger Alkoholiker mit fortgeschrittenem Magen-Karzinom und Leberzirrhose.
Zwischen den Lichtkegeln lagen Bereiche aus schattigem Dunkel. In den dunklen Flecken sah er den Flüchtigen verschwinden und in den Lichtinseln wieder auftauchen. Bis er plötzlich verschwand.
Außer Atem kam Tom an der Stelle an. Neben ihm fiel eine Tür ins Schloss. Herr Jungk war im Schutz der Dunkelheit ins Treppenhaus gehuscht. Gar nicht so dumm.
Am anderen Ende des Flurs erkannte er jetzt einen Wachmann mit Taschenlampe, der flott angelaufen kam. Es handelte sich um einen großen, schwer aussehenden Mann mit kurzen blonden Haaren. Er mochte Mitte 30 sein und trug die dunkelblaue Uniform des Wachdienstes, welcher für das Krankenhaus arbeitete. Sein Namensschild verriet Tom, dass er es mit Lutz Meisters zu tun hatte. Meister Meisters, dachte er belustigt.
»Der Chirurgiepatient? Herr Jungk?«
Außer Atem nickte er Richtung Treppe. »Er ist da rein!«
Der Wachmann stieß die Tür auf und lief ins Treppenhaus. Tom folgte ihm. Meisters stellte sich ans Geländer und leuchtete mit der Taschenlampe abwechselnd nach oben und nach unten. Vom Flüchtigen war nicht das Geringste zu sehen.
Im Treppenhaus herrschte eine noch gedämpftere Beleuchtung als auf dem Krankenhausflur, obwohl Tom gedacht hatte, dunkler ginge nicht, ohne das Licht komplett abzuschalten.
Naja, Strom kostete Geld und das Krankenhaus musste sparen, sollten die Patienten ruhig die Treppe hinunterstürzen ... Unfassbar. Wenigstens einen Bewegungsmelder hätte man anbringen können!
Er holte Luft, um etwas zu sagen, doch Meisters bedeutete ihm in einer Handgeste, zu schweigen. Sekundenlang drang kein Laut durch die Stille des Treppenhauses. Tom hörte nur seinen eigenen Atem, während der Wachmann angespannt auf ein Geräusch wartete.
Plötzlich vernahmen sie ein Knarren, gefolgt von einem Türknallen. Wie von einer Tarantel gestochen setzte sich Meisters in Bewegung und sauste die Treppe hinunter in den Keller, dass Tom Mühe hatte, Schritt zu halten. Der Uniformierte schien 5 Stufen auf einmal zu nehmen. Unten riss er die Kellertür auf und flitzte hindurch, der Krankenpfleger dicht hinter ihm.
Einzelne Deckenlampen beleuchteten dürftig den Kellerflur, den Monika ihm in den ersten Tagen gezeigt hatte. In regelmäßigen Abständen sah er die unterirdischen Korridore zu den Außengebäuden abzweigen, die im Dunkeln lagen.
Mit zügigen Schritten schlenderte Meisters den Flur entlang und leuchtete mit der großen Stabtaschenlampe in jeden Gang hinein. Beim Vierten hielt er inne. Tom holte ihn ein und folgte mit seinem Blick dem Taschenlampenstrahl. Der Wachmann beleuchtete einen etwa 30 Meter langen Korridor, an dessen Ende gerade langsam eine massive Metalltür ins Schloss fiel. Forsch eilte er darauf zu. Tom lief hinterher und sah sich dabei um. Auf einer abblätternden Farbschicht an der Wand erkannte er eine Beschriftung über einem Pfeil: ARCHIV.
Meisters stieß die Tür auf und trat hindurch. Dahinter führte eine steile Treppe nach oben.
Zuletzt war Rudolf eine enge Treppe hinaufgerannt und in einem kurzen Gang mit einer Tür und zwei Fenstern gelandet. Die Tür bekam er nicht auf, also schlug er kurzerhand mit der Faust eine der Glasscheiben ein. Dass er sich dabei die Hand aufschnitt und ihm das Blut den Arm hinunterlief, bemerkte er nicht. Nachdem er das komplette Glas aus dem Rahmen gebrochen hatte, kletterte er hindurch. Man konnte bereits hören, wie die Stasi-Beamten die Treppe heraufkamen, um ihn wieder zu verhaften.
Kaum war Rudolf draußen, hatte ihn der Eisregen durchnässt. Trotz des dünnen Krankenhausnachthemds und den fehlenden Schuhen spürte er jedoch keinerlei Kälte.
Hinter dem Fenster fiel er zu Boden und schlug hart auf dem Asphalt auf. Mühevoll kam er auf die Beine und sah sich um. Er schien auf einem Vorplatz vor einer Baracke zu stehen. Nichts wie weg! Doch nach ein paar Schritten glitt er aus und stürzte. Warum war der Erdboden bloß so glitschig?
Tom schaute zu, wie Lutz Meisters das zerstörte Fenster öffnete und hindurch kletterte. Zögernd folgte er ihm. Draußen regnete es in Strömen, die eiskalten Tropfen durchnässten ihn schnell. Morgen hatte er dann wahrscheinlich eine fette Erkältung.
Sie standen auf einem verlassenen Parkplatz. In der Ferne sahen sie das flatternde Weiß eines Krankenhausnachthemdes im Patientenpark verschwinden. Während der Wachmann wieder zur Verfolgung ansetzte, prüfte Tom noch, wie er sich fortbewegen konnte, ohne auszurutschen. In einiger Entfernung erkannte er die Ruinen der ursprünglichen Klinikgebäude, welche laut Monikas Erzählungen seit über 30 Jahren leer standen. Herr Jungk schien direkt in die Richtung dieser Gebäudeansammlung zu rennen. Verdammt, fror der Mann nicht? Immerhin schützte ihn nur ein Krankenhausnachthemd vor dem Wetter! Tom jedenfalls fühlte sich bereits steif vor Kälte, denn er trug nur einen kurzärmligen Kasack und dünne Gummischuhe.
Mit den besagten Schuhen rutschte er jetzt aus und schlug der Länge nach hin. Schnell rappelte er sich wieder auf. Dreckspritzer bedeckten die weiße Kleidung.
Jungk und Meisters waren verschwunden. Na toll. Eine Weile stand er unschlüssig herum. Vielleicht sollte er einfach zur Station zurückgehen? Immerhin war es nicht seine Aufgabe, hier einen verrückten Patienten quer durch die Pampa zu verfolgen. Dafür gab es den Sicherheitsdienst. Er wandte sich Richtung Haupteingang.
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