Ron Müller - DAS THEODIZEE-PROBLEM

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Es war das Jahr 2023. Ein Atomschlag hatte die Strahlenbelastung in Europa dauerhaft auf einen Wert ansteigen lassen, dem das menschliche Erbgut nichts entgegenzusetzen wusste.
Jetzt, zwei Jahrzehnte später, bleibt nur noch ein Ausweg – ein Vorhaben, das sechsundsiebzigtausend Menschen retten kann. Sechsundsiebzigtausend von achtzehn Millionen! Allerdings gibt es einen Zweifler. Und wenn dieser recht behält, wird nicht ein Einziger überleben.

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Ron Müller

Das Theodizee-Problem

AndroSF 125

Ron Müller

DAS THEODIZEE-PROBLEM

AndroSF 125

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: April 2021, Neuausgabe mit alternativem Umschlag

p. machinery Michael Haitel

Titelbildmotiv: Timofeew Vladimir, Shutterstock

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda

Verlag: p. machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www. p machinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 221 8

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 875 3

1

Die Chefin des Kanzleramtes zog den Anhänger ihrer Kette aus dem Ausschnitt und küsste ihn. Ohne die Lippen vom silbernen Kreuz zu lösen, schloss sie die Augen.

Heute wird beginnen, was du uns aufgetragen hast. Schon einmal war deine Strafe verheerend, vor viereinhalbtausend Jahren. Doch diesmal ist es kein Wasser, keine Sintflut. Zu viele von uns haben die Warnungen noch immer nicht verstanden. Und das werden sie auch nicht! Deswegen strafst du sie mit Krankheit und Tod und lässt die Gläubigen nun Archen bauen – aber nur die, die reinen Gewissens sind. Und sie werden gewaltig sein, diese Archen. Lass uns unter Beweis stellen, dass wir würdig für einen neuen Bund mit dir sind – denn Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme.

Sie ließ das Kreuz ihrer Kette zurück in den Ausschnitt gleiten. Es hatte geklopft.

Ein Mann in Uniform deutete einen militärischen Gruß an und wartete darauf, dass die Chefin des Kanzleramtes vom Schreibtisch aufblickte.

»Ist alles in die Wege geleitet?«, fragte sie den Leiter des Sicherheitsdienstes und ließ ihre Unterlagen keinen Moment aus den Augen.

»So wie Sie es wollten«, erwiderte Roth.

Wäre er noch bei der Truppe und nicht ins Kanzleramt abkommandiert worden, hätte er seinen Antworten ein »Frau Staatssekretärin« anhängen müssen. Unter Politikern und hochrangigen Beamten jedoch war es üblich, diese Phrasen zu vermeiden.

»Wo haben Sie sie hingelegt?« Die Staatssekretärin sah zu ihm auf.

»In das Fach im Rednerpult.«

»Sie wissen, dass wir damit Geschichte schreiben?«

Er nickte, obwohl er keine Vorstellung davon hatte, was das tatsächlich hieß.

Sie erhob sich. »Dann fehlt wohl nur noch die, die durchs Programm führt.«

Sie strich ihr steif wirkendes Kostüm glatt, verließ das Büro und schritt auf den Saal zu, vor dem einige von Roths Männern bereitstanden.

»Viel Glück«, kam es ihm über die Lippen.

Nur für den Bruchteil einer Sekunde war in ihm eine Emotion hochgeschlagen, als er sich der Endgültigkeit dessen bewusst wurde, was der Staatssekretärin bevorstand.

Kaum war die Floskel ausgesprochen, fluchte er innerlich. Seitdem er für die engste Vertraute des Kanzlers arbeitete, bestach er durch Sachlichkeit und Äußerungen, die er auf das erforderliche Mindestmaß reduzierte.

»Glück sagen Sie? Das Glück ist mit den Dummen, Roth. Mit den Dummen! Was wir brauchen, sind Resultate. Und zwar so nötig wie nie zuvor, sonst hat das alles hier bald keinen Bestand mehr.«

Mit einer Arroganz, die den Leutnant, der Anfang dreißig war, beeindruckte, schritt sie auf einen der drei Eingänge des Sitzungssaals zu.

»Es beginnt, meine Herren!«, rief sie durch die Vorhalle.

Roth wartete, bis man die schweren und an die vier Meter hohen Türen hinter ihr verschloss und die Blicke seiner Männer auf ihn gerichtet waren.

»Verriegeln!«

Kaum hatte er den Befehl gegeben, wurden Ketten durch die Griffe der Flügeltüren gezogen. Sekunden später rasteten Vorhängeschlösser ein und er ordnete die Räumung des Kanzleramtes an.

2

»Denkst du, mich interessiert, was du sagst?«, brüllte Zoe über den Flur. »DU KOTZT MICH EINFACH NUR AN!«

Das Mädchen schmiss die Tür zu ihrem Zimmer mit aller Wucht zu und ließ einen Vater zurück, dessen Ratlosigkeit ein erschütterndes Ausmaß annahm.

»Kannst du aufhören, deine Mutter Tag für Tag in den Himmel zu heben? Als du noch bei ihr gewohnt hast, war auch nicht alles toll. Aber so was wird von dir ja komplett verdrängt. Hör auf, ihr ständig einen Heiligenschein aufzusetzen!«

Zornig schwollen der Pubertierenden die Adern am Hals an, während sie die Tür wieder aufriss und die Antwort durch die Wohnung schrie.

»WER VON UNS BEIDEN HAT DENN DIE MUTTER VERLOREN?«

Jetzt ist Schluss!, durchfuhr es Marten.

Am liebsten hätte er ihr eine runtergehauen. Es juckte regelrecht in seinen Fingern, sobald sie mit diesem Totschlagargument kam. Doch auch wenn er ihr nun unmissverständlich klarmachte, dass er sich gleich vergessen würde, brächte sie das nicht zum Schweigen. Er würde sie damit nur weiter provozieren und immer lauter werden lassen. Er hatte sich in seiner Wut sogar schon einmal ihr damals brandneues Clearphone gegriffen, ein komplett transparentes Handy, das einen ähnlich hohen Marktanteil hatte, wie das iPhone vor dreißig Jahren. Während er das gläserne Gerät in den Händen hielt, registrierten Sensoren die Pulsfrequenz an seinen Fingerkuppen. Angesichts der Schlagzahl schaltete es in den Notfallmodus. Ein Befehl von ihm, und der Leitstelle wären sein Standort, die aktuellen Vitaldaten und alle Vorerkrankungen übermittelt worden. Wer in diesem Erregungszustand ein Handy berührte, musste sich – den Logarithmen sämtlicher Smartphoneanbieter zufolge – mit hoher Wahrscheinlichkeit in einer Notsituation befinden. Aber Marten war nicht in Not, als er mit Zoe damals gestritten hatte. Er war stinksauer, weil seine Tochter seit zwei Jahren jegliche Streitkultur vermissen ließ und bei diesem Thema immer nur mit Melodramatik und einer Vielzahl an übelsten Beschimpfungen unterwegs war. Das änderte sich nicht einmal, als er das Gerät mit einem kurzen Befehl für vierundzwanzig Stunden gesperrt hatte – selbst diese drastische Maßnahme ließ die Pubertierende nicht verstummen. Auch nicht als er auf achtundvierzig und dann auf zweiundsiebzig Stunden erhöhte. Zoe war bei einem Streit durch nichts zu bremsen.

So wie heute.

»Ich setze Mama also einen Heiligenschein auf, ja?« Sie war noch nicht fertig. »Hast du eine Vorstellung, wie es ist, wenn der Sarg deiner Mutter in die beschissen kalte Erde runtergelassen wird?«

»Geht es auch weniger theatralisch.« Marten verdrehte die Augen. »Wie oft willst du noch damit kommen? Jedes Mal, sobald dir etwas gegen Strich geht?«

»Hätte ich an deiner Stelle jemanden wie Mutter kennengelernt, dann hätte ich sie auf Händen getragen. DU EKELHAFT SELBSTGEFÄLLIGER ARSCH!«, brüllte Zoe. »Warum bist du denn seit ihrem Tod allein? Denk mal drüber nach, Mann. Vielleicht liegt’s ja an dir.«

»ZOE!« Martens Blut kochte. »Warum hattest du bei deiner Mutter so ein gutes Leben? Weil ich es jahrelang finanzierte.«

»Mit Geld kannst du mich also kaufen?«

Halt die Klappe, sonst scheuer ich dir heute tatsächlich eine!

»ES IST SO ZUM KOTZEN HIER!«

Schallend flog die Tür zu, während Zoe sich innerlich schwor, nie wieder mit ihrem Vater ein Wort zu wechseln.

SO … WAS … GIBT’S … DOCH … GAR … NICHT!

Mit jeder Silbe schlug er wieder und wieder auf den Türrahmen ein, bis ein kleiner blutiger Abdruck zurückblieb.

»Deine Mutter hat dich wirklich super erzogen«, fluchte Marten vor sich hin.

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