„Das wird wohl nicht möglich sein! So schnell lässt sich eine so schwerwiegende Anzeige nicht erledigen. Wir sind zwar nicht der Staatsanwalt. Aber auf ein paar Tage oder Wochen müssen Sie sich einstellen. Wer weiß - vielleicht auf Jahre!“
Franz Schäfer war nicht in der Lage, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Er irrte in seiner Wohnung umher. Öffnete die Tür zur Nebenkammer.
„Ach, was haben wir denn hier? Einen nicht angemeldeten Friseursalon? Schwarzarbeit? Na, da kommt ja einiges zusammen!“
Mit Blaulicht fuhr der Isar-Wagen davon.
Eine Nachbarin hörte man sagen: „Na endlich ist das Pack weg! So eine Nachbarschaft, die kann man ja niemandem zumuten! Und der Lärm von den Kindern! Fußballspielen!“
Am nächsten Tag war die Nachricht im Ort rum: „Der Herr Schäfer ist wegen Kindesmissbrauchs in Haft! Endlich! Seine Frau hat sich das Leben genommen!“
„Da wird jetzt hoffentlich eines der letzten guten Grundstücke frei!“ jubelte ein Makler.
Beim ersten Haftprüfungstermin nach zwei Tagen wurde entschieden, dass Franz Schäfer bis auf weiteres in Untersuchungshaft zu belassen sei, weil der Beschuldigte seine Wohnstätte in unmittelbarer Nähe der durch ihn gefährdeten Kinder habe und somit eine Gefahr von ihm ausgehe.
Als es ihm endlich gelang, einen Anwalt zu finden, der ihn zu vertreten bereit war, wurde ihm eröffnet, die Haft könne vorübergehend ausgesetzt werden, wenn er seinen Wohnsitz in einen anderen Ort verlegen würde. Er müsse sich überdies verpflichten, sich nicht in der Nähe von Schulen oder Kindergärten aufzuhalten. Und er müsse sich alle zwei Tage bei einer Polizei-Dienststelle melden.
Franz suchte sich eine Pension in der Nähe des Sanatoriums, in dem seine Frau betreut wurde. So konnte er einen Grund vorweisen, weshalb er für eine gewisse Weile dort zu bleiben beabsichtige.
Seiner Frau erzählte er nichts von der Polizei, von seiner Verhaftung und den Vorwürfen. Er wollte sie nicht zusätzlich belasten. Der behandelnde Arzt eröffnete ihm überdies, dass die Kinderlosigkeit mit größter Wahrscheinlichkeit nicht an der Unfruchtbarkeit seiner Frau gelegen habe. Das habe man ihr gesagt, damit sie den seelischen Heilungsprozess nicht ständig durch neue Selbstvorwürfe vereitle.
Eines Abends aber, als es schon dunkel war, fuhr Franz zurück zu seinem Haus.
Als er aber des Häuschens ansichtig wurde, durchfuhr im Schrecken und Entsetzen: Jemand hatte quer über die ganze Vorderseite „Kinderschänder“ gesprüht. In derselben Sekunde wusste Franz Schäfer, dass er wohl nie wieder in das Haus seiner Eltern zurückkehren könne. Nie wieder! Nie! Nie! Es würde von nun an auf immer und ewig das Kinderschänderhaus sein. So lange es nicht von einem Bagger weggeräumt würde.
Franz war drauf und dran, umzukehren. Er war drauf und dran, durchzudrehen und schreiend in den Wald hineinzulaufen. Zu laufen, zu laufen, zu laufen - bis er nicht mehr laufen könne und zusammenbräche. Tot oder wie - das war ihm egal.
Dann besann er sich doch. Er wollte wenigstens noch ein paar liebgewordene Sachen bergen. die ihm wertvoll schienen, Fotoalben, Dokumente vom Haus, vom Grundstück, von den Banken. Noch das Wasser abstellen und die Heizung, alle Sicherungen rausdrehen. Den Inhalt des Kühlschrankes entleeren. Weniges mitnehmen, vieles in den Müll. Im Briefkasten fand er noch einen Haufen Papier, Briefe und Reklame zusammengequetscht und nass. Die Briefe nahm er an sich. Im Dunkeln konnte er nichts entziffern.
Dann lief er davon. Schaute sich noch einmal um und betete „Lieber Gott, wenn es dich gibt, dann lass einen Blitzstrahl hinunterfahren. Zünde unser Häuschen an, damit sich niemand mehr daran vergreife. Aber kein Blitz fuhr hinunter. Das Haus, seine Kindheit und sein Glück verschwanden in der Finsternis.
Franz Schäfer war nervlich am Ende. Als er schon den halben Weg zur S-Bahn entlang gestolpert war, jeder, der ihn gesehen hätte, wäre sich sicher gewesen, einen Betrunkenen torkeln zu sehen, bog er links ab und tauchte kurz danach im tiefdunklen Wald unter. Erst hier traute er sich, sein Leid in die Welt zu schreien. Eine Bank, einst der Lieblingsplatz seiner Eltern, feucht und voller Moos, bot ihm Halt. Er begann zu heulen wie ein kleines Kind. Was hatte sein Leben noch für einen Sinn? Er hatte es zu nichts gebracht. Beruflich nicht. Nicht mal das Haus selbst erbaut. Seine Frau ins Unglück gestürzt. Und nun als Kinderschänder verfemt. Kraftlos rutschte er hinab ins nasse Gras. Willenlos. Wäre es doch leichter zu sterben! Zu erfrieren! Todkrank dahin gerafft zu werden.
Lange lag er dort. Die kalte Nässe kroch durch seinen Mantel, durch seine Kleidung, seine Schuhe. Oh wären es doch 20 Grad Kälte, dann käme der Tod schneller herbei, dachte er. Plötzlich spürte er etwas Warmes in seinem Gesicht, ein Hecheln drang an sein Ohr, dann ein Bellen, ein aufgeregtes Bellen, ein Stupsen, so, als wolle der Hund mit ihm reden. Da trat eine Frau auf ihn zu.
„Sind Sie verletzt? Oh Gott, wie sehen Sie denn aus? Wer hat Sie denn so zugerichtet?“
Der Hund begann heftig erregt um ihn herum zu tänzeln.
Franz Schäfer wagte kaum aufzublicken. Oh ja, mit einem Hund hätte er jetzt sprechen wollen; aber mit einem Menschen? Mit einer Frau? Er, der Kinderschänder?
„Soll ich einen Krankenwagen rufen?“
„Nein, bitte, lassen Sie mich hier liegen. Ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr!“
„Sagen Sie mal, sind Sie nicht der Herr Schäfer? Der Mann von der Mama Schäfer? Bei der wir oft in der großen Pause Limo getrunken haben?“
„Ja, Mama Schäfer .... sie ist krank auf den Tod. Und ich - geben Sie sich nicht mit mir ab, nicht mit einem Kinderschänder .... man hat mich verflucht .... ich ....“
Ihm versagte die Stimme.
„Oh Gott, sie werden doch jetzt nicht sterben, nicht sterben. Schnell, ich rufe einen Arzt. Ich rufe meinen Arzt. Oder den Notarzt!“ Sie fingerte in ihren Taschen, um das Handy zu finden.
„Nicht .... den Notarzt .... liebe Frau .... ich darf nicht hier sein .... Polizei nicht .... ich wohne nicht mehr hier .... ich darf hier nicht mehr wohnen .... ich bin verfemt, hören Sie, verfemt!“
„Dann nehme ich Sie jetzt mit zu mir nach Hause! Können Sie gehen? Aufstehen?“
Kräftig packte die Frau zu, bis er sitzen und sich an der morschen Bank abstützen konnte. Nach einer Pause richtete er sich auf. Aufgeregt umschwänzelte ihn der kleine Hund, als er Schritt für Schritt am Arm dieser fremden Frau durch die Nacht stapfte, bis sie zu einem größeren Mietshaus kamen, unweit vom Wald.
„Ich bin die Jutta Schrader! Vielleicht erinnern Sie sich noch an ein Mädchen mit langen Zöpfen - obwohl, Sie waren ja tagsüber nie zuhause. Ihre Frau, sie war wie eine Mutter zu uns, immer so besorgt!“
Als er sein mit grüner Moosschmiere verdrecktes Gesicht über seinem nassen, schmutzverklebten Mantel sah, erschrak er. Es war ein Gespenst, das ihm da aus dem Spiegel entgegenblickte.
„Ich muss hier weg! Muss nach Hause!“
„So können Sie nicht weg. Wo ist denn jetzt Ihr Zuhause?“
„Ich habe keines mehr. Weit weg - in einer billigen Pension ....“
„Jetzt mache ich uns erst einmal einen Tee. Sie müssen sich aufwärmen. Dann bringe ich Sie, auch wenn es weit ist .... warum dürfen Sie nicht hier sein?“
„Ich habe nur Haftverschonung. Muss Bedingungen einhalten. Darf nicht an meine bisherige Wohnstätte. Von mir gehe Gefahr für die Kinder aus, hat der Haftrichter gesagt!“
„Papperlapapp! Was ist denn das für ein bodenloser Blödsinn? Hat Sie jemand angezeigt?“
„Ja, es lägen mehrere Anzeigen gegen mich vor, wegen Kindesmissbrauchs!“
„Von wem? Wer soll Sie angezeigt haben?“
Mit einem Küchentuch wischte er sich das Moos aus dem Gesicht. Der kleine Hund hatte sich zu seinen Füßen zusammengerollt und knurrte leicht.
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