„Nein, das hat es nicht. Und das Elixier deiner Mutter lässt es auch nicht dazu kommen.
An meinen richtigen Vater kann ich mich kaum erinnern. Er starb, ehe ich drei Jahre alt war. Meine Mutter musste, auf Drängen ihres Bruders, einem rohen, ziemlich üblen Grafen mit Namen Baldur von Schöpfingen heiraten. Wir hatten sehr viel unter ihm zu leiden. Er hat uns oft geschlagen. Mutter war eigentlich ständig grün blau im Gesicht. Selbst die Arme hat er ihr gebrochen. Mit sechs Jahren hatte meine Qual ein Ende. Ich wurde als Page an den Hof des Grafen von Gelderland gegeben. Baldur war froh, dass er mich auf diese Art loswerden konnte. An diesem Hof ging es mir richtig gut, obwohl ich noch oft geschlagen wurde, aber das war nichts, im Vergleich zu vorher. Aber wirklich schönes gibt es aus dieser Zeit nicht zu berichten.“
„Hast du denn keine guten Erinnerungen an deine Kindheit?“
„Nein, Ago, die habe ich nicht. Aber in meinem vierzehnten Lebensjahr sollte eine bessere Zeit für mich anbrechen. Doch lass mich der Reihe nach erzählen. Zur Sommersonnenwende in besagtem Jahr kam ein Ritter mit an den Hof des Grafen. Wate von Stürmen war noch sehr jung an Jahren, er zählte damals erst dreiundzwanzig Sommer. Sein Vater, der König von Gotland und der Graf von Gelderland waren Jugendfreunde. Der junge Ritter sollte eigentlich nur eine Einladung des Vaters überbringen, denn es galt am Königshofe ein großes Fest zu feiern. Eine glückliche Fügung wollte es, dass er mir bei meinen Schwertkampfübungen zusah. Von uns Pagen war ich der Beste im Schwertkampf. Das sollte mein Glück sein: Wate von Stürmen suchte einen neuen Knappen. Sogleich wurde ein Schreiben an meinen Stiefvater aufgesetzt, in dem ihm der Graf mitteilte, dass ich als Knappe an den Hof des Königs von Gotland gehen würde. Der Graf kannte meinen Stiefvater, er wusste, dass es keine Einwände geben würde. Schließlich war er mich auf diese Art los.
Die Fahrt nach Gotland werde ich nicht vergessen. Wir haben viel gelacht. Nie zuvor fand ich es so schön im Sattel zu sitzen. Wate von Stürmen war sehr freundlich zu mir. Am Hof seines Vaters hatte ich eine wunderbare Zeit. Dann rief der König zum Kreuzzug auf. Mein Ritter und ich nahmen das Kreuz.
Noch vor der Erstürmung Akkons wurde ich während einer Schlacht zum Ritter geschlagen, weil ich den verletzt am Boden liegenden König mit dem eigenen Leib schützte.“
Die Tage waren merklich kürzer geworden. Laue Sommerabende wichen einer deutlich kühleren Dämmerung. Langsam färbte sich das Laub an Bäumen und Sträuchern herbstlich. Stürme fegten über das Land, rissen totes Geäst aus den Bäumen, jagten kreischende Vögel über den düsteren Himmel.
Bertram weilte noch immer als Gast auf der Schauenburg. Zuerst war es die schwere Verwundung gewesen, die ihn auf
der Burg hielt. Dann war es der drohende Wintereinbruch, der ihn dazu zwang, in den Mauern der alten Festung zu bleiben. Traurig war er deswegen gewiss nicht, denn Ago war ihm inzwischen zu einem guten Freund, ja beinahe Bruder geworden. Er hoffte inständig, dass ihm recht bald etwas einfiele, was Ago helfen könnte. Aber es war ihm nicht möglich. Da war eine Mauer, ein schwarzes nichts. Es gelang ihm einfach nicht, irgendwelche Erinnerungen aufzurufen.
Wie gern hätte gern hätte er Ago geholfen, aber die dunklen Wolken in seinem Kopf wichen nicht. Oft ritt er stundenlang umher, Sturm und Regen nicht achtend, oder er verkroch sich irgendwo in der Burg, kniete betend in der eiskalten Kapelle, immer auf der Suche nach seinen Erinnerungen. Bertram verstand sich selbst nicht mehr. Hätte er einen Schlag auf den Kopf bekommen, hätte er verstehen können, dass ihm die Erinnerung fehlte. Von manchem seiner Gefährten wusste er, das eine solche Verletzung dazu führen konnte, das viele Bilder aus dem Gedächtnis gelöscht wurden. Es mochte wirklich nur daran liegen, dass er sich nicht erinnern wollte. Traf ihn ein fragender Blick Agos, schüttelte er nur stumm den Kopf. Der Nebel in Bertrams Schädel war zäh. Nur langsam tauchten Bilder aus dem Kreuzfahrerlager auf. Kampfszenen lösten sich aus dem Dunkel des Vergessens, Gesichter, denen er sogar Namen zuordnen konnte, erschienen. Aber das konnte doch nicht alles sein.
Längst waren die Herbstwinde verweht. Mit ihnen auch die Farbenpracht des Laubes. Wo gestern noch bunte Blätter hingen, streckte sich heute schwarzes Geäst zum finsteren Himmel. Es war die dunkle, raue Jahreszeit die nun begann. Eisige Stürme fegten über das Land, ließen alles Lebendige erstarren. Es war der grimmige, kalte Winter, der seine baldige Herrschaft ankündigte. Die Schauenburger wussten,
was auf sie zukam und begannen mit ihren Wintervorbereitungen. Mit dicken Fellen und derben Lederhäuten wurden die Fensteröffnungen verschlossen.
Dem Wind wurde, wo es nur ging, der Weg versperrt. Jetzt
konnte der Schnee kommen und mit seinem weißen Linnen,
Burghof und Grünfeld bedecken.
Es war die Zeit, zu der die Feuer in den Kaminen nicht mehr erloschen. Die Zeit, in der sich die Menschen um die wärmende, lebensspendende Glut scharten. Der Lieblingsaufenthalt der meisten Schauenburger war jetzt die große Küche, die sich zu ebener Erde, direkt unter dem Rittersaal befand. Auch Ago und Bertram verbrachten viel Zeit an dem großen Herdfeuer. Die Mägde in der Küche wussten, dass es nicht nur die Wärme war, die die beiden Freunde in die Küche trieb. Und so landete manches saftige Bratenstück nicht auf gräflichen Tellern, sondern gleich in Agos Hand. Bertram hingegen bediente sich, manchmal zu reichlich, an Met und gewürztem Wein. Ago, der sich mit alkoholischen Getränken zurück hielt, musste dann seinen ritterlichen Freund öfter als es ihm lieb war, in dessen Kammer bringen.
Klappernde Hufe und laute Kommandos unterbrachen die eben begonnene Winterruhe der Burg. Alles, was Beine hatte, eilte zum Tor, selbst Burghild ließ es sich nicht nehmen, nach der Ursache des Geschreis zu sehen. Schnell war der Verursacher gefunden: Geldre war es, der königliche Herold, samt seinem Gefolge, der den Winterfrieden störte. Die Herrin rief nach Salz und Brot, um den Gast willkommen zu heißen. Geldre, der in seinen bunten Wappenrock gekleidet war, eilte der Gräfin entgegen, kniete
vor ihr nieder.
„Verzeiht den Überfall, edle Herrin, es drängt die Zeit und ich will zurück sein, bevor uns der Winter hier seine eisigen
Fesseln anlegt!“
Der Wohlklang seiner kräftigen, männlichen
Stimme ließ alle aufhorchen.
„ Ich bringe euch Grüße von meinem Herrn, König Guntram
von Nordland. Gern wäre er selber gekommen, wichtige Geschäfte hielten ihn jedoch zurück.“
Nachdem sich die Gäste in der Küche gestärkt hatten, saßen sie alle vor dem wärmenden Feuer des großen Kamins im Rittersaal. Die Glut taute nicht nur die steifgefrorenen Glieder der Gäste auf, sondern löste auch deren Zungen. Die Schauenburger bekamen die neusten Nachrichten aus dem Königreich, nebst den aktuellen Gerüchten zu hören.
„Bei all den lustigen Gesprächen sollte ich nicht den Anlass meiner Reise vergessen“, lachte Geldre, stand auf und verließ den Rittersaal. Seine kraftvolle Stimme war gewiss auf der ganzen Burg zu hören, während er draußen einige Befehle erteilte. Ein großes, in Leder gebundenes Buch in den Händen tragend, betrat er wieder den wärmenden Feuerkreis.
„Edle Burghild, wie ihr wisst, vollendete ich vor einiger Zeit die Wappensammlung mit den Feldzeichen aller Adeligen aus König Guntrams Reich. Und weil mein Herr nur zu genau
weiß, wie sehr euer Herz an der Wappenkunde hängt, bat er
mich, die gleiche Arbeit für euch noch einmal zu tun! Was ich für euch, edle Herrin, gern getan habe.“
Mit diesen Worten überreichte der Herold der Burgherrin das
kostbare Buch. Burghild freute sich unbändig über den kunstvoll in Leder gebundenen Folianten. Sie bedankte sich bei dem Herold dafür, das er die viele Arbeit auf sich genommen hatte, nur um ihr eine Freude zu bereiten. Ago und Bertram traten ebenfalls heran, um die kunstvolle
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