Um ihren Fleiß zu belohnen, wie Derek meinte, hatte er ihr zusätzliche fünf Tage Urlaub gewährt. Anne hatte erfreut geklungen, als Carys ihr die Mitteilung machte, dass sie nun länger bleiben könne. Vielleicht hätte sie es ihr nicht sagen sollen. So wie sie ihre Schwester kannte, würde sie nun ihren Urlaub minutiös planen. Wanderungen, Treffen zu Tee und Kuchen bei allen möglichen Leuten, die sie von früher kannte, wobei das Bedürfnis, sie zu sehen, von Carys‘ Seite wahrscheinlich nicht groß sein würde. Neugierige Fragen, was sie denn mache, wie es ihr gehe, ob sie einen Partner habe, wie das Leben in London so sei und dergleichen mehr. Dazu womöglich noch irgendwelche Dorffeste mit skurrilen Spielen und Zusammenkünften.
Annes Familie, allgegenwärtig, ihr Mann Curt, der sie immer mit einer gewissen Zurückhaltung behandelte, die Zwillinge Simon und Andrew – wie alt waren sie gleich noch mal? Neun, genau. Sie hatte Anne gefragt, was sie den Jungen mitbringen sollte, hatte so gar keine Ahnung von den Interessen ihrer Neffen. Auf den Rat ihrer Schwester hatte sie für Andrew ein Harry-Potter-T-Shirt mit dazu passenden Socken und für Simon einen Fußball gekauft.
Sie wusste noch nicht recht, ob sie sich wirklich auf diesen Besuch freuen sollte. Nun gut, falls ihr alles zu viel wurde, konnte sie noch immer eine Ausrede erfinden, um abreisen zu können.
Sie hasste sich selbst für diesen Gedanken. Anne war ihre einzige Schwester, die letzte Verbindung zu ihrer Heimat, nachdem zuerst ihr Vater und auch noch ihre Mutter gestorben waren.
Bis zum plötzlichen Tod ihres Vaters waren sie eine ganz normale, glückliche Familie gewesen. Jonathan Ryder unterrichtete Geschichte und Archäologie an der Bangor University und Carys hatte seinen Hang zum Tagträumen geerbt. Ihm hatte sie auch ihren typisch walisischen Vornamen zu verdanken und die Tatsache, dass sie und ihre Schwester zweisprachig aufwuchsen. Er legte Wert auf Tradition und Geschichte und lehrte sie walisisch. Ihre Mutter Elizabeth verkörperte stets die praktischere Seite der Familie. Sie arbeitete als Schneidermeisterin.
Jonathan Ryder wurde auf dem Nachhauseweg von der Universität von einem betrunkenen Autofahrer überfahren und starb noch an der Unfallstelle. Carys war sieben, als ihre Welt zusammenbrach. Sie hatte ihren Vater vergöttert und nach seinem Tod das Gefühl, als stünde sie völlig allein da. Die Beziehung zu ihrer Mutter und der drei Jahre älteren Anne war nie von großer Herzlichkeit geprägt gewesen und so zog sich das verträumte Kind völlig in eine Fantasiewelt zurück. Und als sich die Gelegenheit bot, flüchtete sie nach London, wo sie in der Welt des Theaters das fand, was sie suchte. Glaubte sie zumindest.
Carys seufzte, als sie an das Fiasko dachte, mit dem ihre Beziehung zu Mark Hanson, dem gefeierten Bühnenstar, geendet hatte. Sie war zum Großteil auch selbst schuld daran. Sie hätte es wissen müssen. Alle wussten es. Mark Hanson genoss sein Leben, seine zahlreichen Affären waren schon Gesprächsthema, ehe er an das Globe verpflichtet wurde. Warum sollte ausgerechnet sie, die verträumte Carys mit dem walisischen Akzent, seine große Liebe sein? Gott, war sie dumm gewesen!
Bitterkeit wallte in ihr auf, wieder einmal, und sie musste sich beherrschen, um nicht in Tränen auszubrechen. Was grundsätzlich egal gewesen wäre, sie saß allein im Abteil.
Stattdessen nahm sie den Zeichenblock zur Hand und begann zu skizzieren. Ein Monster mit den Zügen Mark Hansons. Die Augenbrauen spöttisch hochgezogen, Hörner auf dem Kopf und sein attraktives Gesicht zu einer grässlichen Fratze verunstaltet.
Ihre Wut verrauchte. Kopfschüttelnd betrachtete sie das Porträt und verstaute den Block in ihrer Tasche.
Dabei stießen ihre Finger auf das Holzkästchen. Sie hatte es im letzten Moment noch eingepackt, in der Hoffnung, Curt könne ihr etwas dazu sagen. Er war Tischler und spezialisiert auf das Restaurieren von Antiquitäten.
Es hatte sich nichts Merkwürdiges mehr ereignet und Carys war mittlerweile geneigt, die Vorkommnisse nach ihrem Albtraum ihren überreizten Nerven zuzuschreiben. Alles andere wäre zu unwahrscheinlich gewesen. Ein Pergament, das leuchtete und Geschichten erzählte! Was für ein Unsinn!
Sie holte ihr Handy heraus, stöpselte die Kopfhörer an und versuchte sich zu den Klängen von Scarborough Fair und anderen Folksongs zu entspannen.
Ein heftiger Ruck riss sie aus ihrer Versunkenheit. Sie war tatsächlich eingedöst. Der Zug hatte gerade in Chester gehalten. Hastig nahm sie die Kopfhörer ab und verstaute das Handy in ihrem Rucksack. Sie nahm den Koffer auf und sprang gerade noch rechtzeitig aus dem Zug. Den Anschluss nach Bangor erreichte sie ohne Probleme eine Viertelstunde später, die sie auf dem Bahnsteig zubrachte, noch immer ein wenig benommen.
Das Wetter war zum Glück schön und jetzt zur Mittagszeit wärmte die Sonne für Oktober noch angenehm. Mittlerweile hatte sie auch Hunger bekommen und sie aß das mitgebrachte Sandwich im Stehen, während sie wartete.
Die Fahrt nach Bangor würde etwa eine Stunde dauern. Sie setzte sich in ein Abteil, einem Mädchen gegenüber, das nur Augen für sein Smartphone hatte und bei ihrem Eintreten nicht einmal aufblickte.
Carys sah aus dem Fenster. Das vertraute Grün der Hügel zog an ihrem Blick vorbei und nun begann sie sich doch zu freuen. Als zu ihrer Rechten das Blau des Meeres sichtbar wurde, befiel sie eine seltsame Unruhe. Der Zug passierte Conwy und nun war es nicht mehr weit. Zwanzig Minuten noch.
Zum letzten Mal war sie beim Begräbnis ihrer Mutter in Wales gewesen, das war jetzt eineinhalb Jahre her.
Sie stieg aus, als der Zug in Bangor hielt und verließ das Bahnhofsgebäude. Curt würde auf dem Parkplatz auf sie warten. Sie entdeckte ihn neben seinem Jeep und winkte ihm zu.
„Helo Carys! Gute Fahrt gehabt?“ Er küsste sie flüchtig auf die Wange und musterte sie forschend.
Sie lächelte. „Danke. Ich habe die Gelegenheit genützt, mich ein wenig zu entspannen.“
„Du siehst müde aus.“
Sie seufzte. „Ich hatte eine ziemlich anstrengende Woche. Aber ich habe es geschafft.“
Curt nickte nur. Er war kein Mann der vielen Worte.
Sie stieg in den Wagen. Der Geruch von frisch geschnittenem Holz und Möbelpolitur drang in ihre Nase.
„Ich hatte gerade eine Lieferung, da passte es gut“, meinte Curt und setzte sich auf den Fahrersitz, nachdem er ihr Gepäck im Laderaum des Wagens verstaut hatte.
„Dann bin ich froh, dass ich dir keine Umstände mache.“
Herrgott, wie gestelzt das klang! Sie hatte vergessen, dass es immer etwas dauerte, bis sie in Curts Gegenwart ihre Befangenheit ablegte. Sie kannten sich eigentlich seit der Schulzeit – er war Annes Klassenkamerad gewesen. Früher war sie selbst ein wenig ihn in verschossen gewesen, der ruhige, zurückhaltende Junge hatte ihr imponiert. Aber er hatte sich für Anne entschieden und ihre eigene Verliebtheit war längst Geschichte.
Curt fuhr den Jeep aus der Parklücke und bog auf die A 5 ein – der schnellste Weg, um nach Tregarth zu kommen. Die Farm seiner Eltern, die er mit Anne und den Zwillingen bewohnte, lag eine Viertelmeile südlich des kleinen Ortes.
Carys betrachtete im Vorbeifahren die Gebäude der Universität und lehnte sich mit einem Seufzer zurück. „Hier hat sich anscheinend nicht viel geändert.“
Curt warf ihr einen Seitenblick zu und lächelte. „Nein. Noch immer die langweilige kleine Stadt. London ist bestimmt aufregender.“
Da war sie wieder, die heimliche Spitze, der unterschwellige Vorwurf, weil sie ihre Familie im Stich gelassen hatte. Oder war sie nur überempfindlich? Sie sah ihren Schwager von der Seite an. Curt Jones war ein bodenständiger, unauffälliger Typ. Oder schien ihr das nur so, weil sie mittlerweile an die schillernde Theaterwelt mit ihren mehr oder weniger skurrilen Gestalten gewöhnt war? Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass seine Haare sich über der Stirn ein wenig lichteten. Er ähnelte seinem Vater, mit dem energischen Kinn und den braunen Augen. Seinen Händen sah man den Handwerker an. Er trug ausgebleichte Jeans und eine abgewetzte Jacke.
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