Laura nahm ihren großen Hexenhut und setzte ihn auf. „Und ich fühle mich wie eine böse Hexe“, sagte sie lachend und blickte dann auf die Uhr.
Gleich würde ihre Mutter sie zur Schule fahren.
Sie freute sich schon sehr auf die Party.
Vielleicht ergab sich ja sogar eine Gelegenheit, in Ruhe mit Cedric zu sprechen. Immer wenn sie ihn in der letzten Zeit in der Schule getroffen hatte, war er von vielen Freunden umringt gewesen.
Sie hatte sogar schon überlegt, ob sie ihn mal wieder anrufen sollte, hatte sich aber doch nicht getraut. Seit dem letzten Gespräch hatte sie viel nachgedacht und verstand seinen Blickwinkel. Außerdem hatte sie das Gefühl, dass er eifersüchtig gewesen war. Das verursachte ein Kribbeln in ihrem Bauch, denn das würde bedeuten, dass er etwas für sie empfand.
Darüber wollte sie mit ihm reden. Außerdem musste er von ihrem Traum erfahren. Aber nur unter vier Augen. Hoffentlich nahm ihn nicht diese blöde Ziege Michelle total in Beschlag.
Ihre Mutter fuhr sie zur Turnhalle der Schule.
Die beiden Mädchen standen in der Eingangshalle und schauten sich um.
Der Anblick der verkleideten Schüler wirkte faszinierend. Es war ungefähr jedes denkbare Horrorkostüm vertreten. Von ihrem Standpunkt aus konnten sie Vampire, Zombies und Hexen sehen. Eine Gruppe in Gothic-Kostümen fiel besonders auf. Ein Werwolf mit spitzen Zähnen versuchte, aus einem Weißbierglas zu trinken. Der Teufel unterhielt sich mit einem Harlekin, während ein Skelett mit einem Seeungeheuer stritt.
Laura stellte sich mit Vanessa und Anna an einen Stehtisch, trank ein Glas Hugo und genoss den Abend.
Die Musik war toll, die Band hatte sich auch verkleidet und die Gesichter bemalt. Anderthalb Stunden lang alberte Laura mit ihren Freunden herum. Sie war so guter Dinge, dass sie ausgelassen winkte, als Michelle und Cedric die Turnhalle betraten. Er winkte lächelnd zurück, aber Michelle wandte sich hochnäsig ab.
Sie kamen beide tatsächlich als Romeo und Julia.
Laura fand, dass Cedric in seinem Kostüm ziemlich unglücklich wirkte. Er trug eine dunkelbraune Kniebundhose, darunter eine beige Strumpfhose.
Darüber ein weit geschnittenes weißes Hemd mit einem braunen Gürtel um die Hüfte. Auf dem Kopf ein Barett aus weichem Samt mit Bordüre. Die flachen, braunen Schnallenschuhe wirkten leicht homophil.
Michelle dagegen schien ganz in ihrem Element zu sein. Sie begrüßte ausgelassen ihre Freunde und ließ sich in ihrem tollen Kostüm bewundern.
Pünktlich um dreiundzwanzig Uhr begann die Prämierung der besten Kostüme. Alle stellten sich im Kreis vor der Bühne auf. Die Jury bestand aus der Direktorin, dem Kunstlehrer und dem Inhaber der Tanzschule.
Laura stellte sich gar nicht erst mit auf. Sie wusste auch so, dass ihr Hexenkostüm keinen Preis gewinnen würde. Außerdem fand sie es unterhaltsamer, von der Bar aus das Geschehen zu beobachten.
Sie bemerkte, wie Cedric und Michelle miteinander stritten. Es ging offenbar darum, ob sie sich gemeinsam der Jury präsentieren sollten. Cedric wirkte dabei ziemlich sauer. Michelle packte ihn einfach am Arm und zog ihn mit sich zur Bühne. Hocherhobenen Hauptes stolzierte sie vor der Jury entlang und zerrte Cedric hinter sich her.
Laura bewunderte die stolze Haltung und das wunderschöne blonde Haar von Michelle. Kein Wunder, dass Cedric ganz verrückt nach ihr war. Eine so attraktive Frau konnte es sich auch leisten, einem Jungen auf der Nase herumzutanzen.
Erstaunt sah Laura, wie Cedric und Michelle den dritten Preis für ihre Kostüme bekamen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte Cedric überhaupt keinen Preis verdient. Er wirkte in seiner Verkleidung viel zu unglücklich und verkörperte den Romeo nicht glaubhaft. Mit seinen flachen Schnallenschuhen und der Strumpfhose hätte er auf dem Christopher Street Day mehr Eindruck und Bewunderung erzeugt.
Michelle platzte vor Stolz. Sie nahm den Preis für den dritten Platz, die neue CD von PUR mit dem nicht ganz unpassenden Titel „Schein & Sein“, strahlend entgegen.
„Siehst du“, wandte sie sich triumphierend an Cedric, „ich hab dir ja gesagt, dass du toll aussiehst.“
„Ja, klar“, antwortete Cedric und wirkte dabei deprimiert. „Ganz toll!“
„Hier halt mal die CD“, flötete Michelle, drehte sich zur Seite und winkte einem Mann in einem Vampirkostüm ausgelassen zu.
„Hallo, Philip! Du hast den ganzen Abend noch kein einziges Mal mit mir getanzt.“ Sie ließ Cedric mit der CD stehen und lief hinüber zu Philip.
Laura beschloss, die günstige Gelegenheit zu nutzen. Beschwingt lief sie zu Cedric, der immer noch wie bestellt und nicht abgeholt herumstand.
„Hallo, Cedric. Willst du nicht lieber mit mir als mit der CD tanzen“, fragte sie süß grinsend.
Verwirrt drehte sich Cedric zu ihr um.
„Klar, gerne. Aber erst mal muss ich das Ding loswerden.“
„Okay, ich warte hier auf dich.“
Cedric lief zur Garderobe und steckte die CD in seine Manteltasche. Nach wenigen Minuten kam er zurück. Er strahlte plötzlich über das ganze Gesicht. Die Band spielte langsame und ruhige Musik. Es erinnerte ihn an die Verlobungsfeier seines Bruders.
„Kannst du denn mit den hohen Schuhen tanzen?“, fragte er Laura und bewunderte ihre High-Heels.
„Natürlich. Warum sollte das nicht gehen?“
„Ich würde ständig über meine eigenen Füße stolpern. Ist das nicht schwer, mit so hohen Absätzen zu laufen?“
„Na ja, es ist nicht ganz einfach. Aber mir gefallen sie sehr gut“, sagte sie und blickte ihn fragend an.
„Die Schuhe stehen dir sehr gut und betonen deine tolle Figur. Du bist die schönste Hexe in der Turnhalle.“
„Danke sehr, Romeo“, hauchte sie sanft, nahm seine Hand und zog ihn auf die Tanzfläche. „Komm, lass uns tanzen.“
Anfangs klappte es nicht besonders gut.
Laura kam mit ihren ungewohnten hohen Absätzen zweimal ins Stolpern. Doch nach kurzer Zeit tanzten sie immer sicherer zusammen. Cedric hielt sie fest in seinen Armen und genoss den Geruch ihrer Haare.
„Cedric“, begann Laura zögernd. „Es tut mir leid, dass wir gestritten haben.“
„Nein, du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Es ist alles meine Schuld.“
„Du hast übrigens Recht gehabt. Mein Verhalten war ziemlich albern. Aber das soll nun anders werden. Ehrlich. Heute Abend bin ich zum Beispiel allein hergekommen.“
„Allein? Und wo stecken deine vielen Verehrer?“
Laura lachte. Cedric spürte ein Kribbeln in seiner Herzgegend. Er sah sie sanft und zärtlich an, dass ihr ganz kribbelig wurde.
„Du bist schon ein besonderes Mädchen“, flüsterte er schließlich.
Laura war unsicher, was er damit meinte.
Ob er es schade fand, dass sie nicht so war wie Michelle?
„Ich habe in letzter Zeit viel nachgedacht, Cedric. Ich möchte mich nicht zwischen dich und Michelle drängen.“
Atemlos und angespannt wartete sie auf seine Antwort.
„Weißt du, Laura, ich kann mich nicht so gut ausdrücken. Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll ...“
Laura spürte plötzlich einen dicken Kloß im Hals und kämpfte mit den Tränen. Nein, so schnell wollte sie nicht aufgeben.
Zum ersten Mal war sie sich seiner körperlichen Nähe bewusst. Sie spürte die Wärme seiner Hände auf ihrem Körper und den Duft seiner Haut. Als er sie noch dichter an sich zog, fühlte sie eine eigenartige Erregung in sich aufsteigen. Verwirrt vergrub sie den Kopf an seiner Schulter.
„Cedric! Kommst du mal bitte!“
Die durchdringende, laute Stimme von Michelle brachte Laura sofort wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Sie erschrak und zuckte einen Schritt zurück.
„Lass uns später weiterreden“, sagte Cedric, drehte sich um und schritt zur ungeduldig wartenden Michelle.
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