Anne-Marie war - für französische Verhältnisse - ziemlich pünktlich in der Hotelhalle erschienen.
Sie gab eine Art Vertreterkoffer dem Concierge und dieser holte mein Auto aus der Garage. Auf der Fahrt nach Avignon gerieten wir in einen Stau und Anne-Marie teilte telefonisch mit, dass wir erst nach 14 Uhr im Geschäft sein könnten.
In Avignon setzte ich sie vor einem Juweliergeschäft ab und wir verabredeten uns in einem Café an der „Pont St. Bénézet“.
Eigenartigerweise hatte ich in Avignon überhaupt keine Probleme mit meinem Bein, was mir erst bewusstwurde, als ich über den riesigen Platz vor dem Papstpalast spazierte.
Beim „Papst“ war ich schon mit Helene, sodass ich nun langsam durch die Stadt schlenderte. Nach einer Stunde ging ich zu unserem Treffpunkt, dem Café.
Anne-Marie saß schon in einer Nische und telefonierte.
Sie hatte mich nicht gesehen. Kurz bevor ich ihren Tisch erreichte, hörte ich Gesprächsfetzen und erkannte, dass sie offenbar von mir sprach. Ich verstand, dass ich Cordhosen tragen würde, aber Maßschuhe vom Schuhmacher. Danach glaubte ich zu hören, dass sie bemerkt hätte, dass ich eine „Lange & Söhne“ trüge und ein sehr angenehmer Mann mit einer harten französischen Aussprache wäre. Ich wusste, dass französische Frauen bei Männern eine harte Aussprache besonders mögen. Danach sagte sie, dass unsere Bekanntschaft dann enden würde, wenn ich von ihr Zärtlichkeiten erwarten würde, weil sie diese vier Monaten nach dem Tode von Papa nicht erteilen könnte.
Ich empfand es als unhöflich, länger zuzuhören und machte mich bemerkbar.
Als sie mich sah, beendete sie das Telefonat mit den Worten, dass ich gerade kommen würde und sie wieder anriefe.
„Hallo Joseph, ich habe gerade mit meinen Kindern telefoniert und berichtet, dass die Abwicklung des Geschäftes dank Ihrer Hilfe gut verläuft.“
„Na, liebe Anne-Marie, ich chauffiere Sie doch nur.“
Jetzt hatte ich das Gefühl, dass sie keine Betrügerin war und nur den Tod ihres Mannes noch nicht verkraftet hatte.
„Sie sind ein guter Freund und Ratgeber geworden. Gestern beim Essen hatten Sie mir empfohlen, beim Notar darauf zu bestehen, dass die Übergabe erst nach Eingang des Kaufpreises auf meinem Konto erfolgen darf. Mein Sohn hat mir gerade das Gleiche gesagt, nachdem er seinen Anwalt befragt hat. Wieso wissen Sie so etwas?“
„Sehen Sie, Anne-Marie, ich bin schon etwas älter als Sie und da weiß man das eben. Ich kenne das französische Wort nicht, aber auf Deutsch sagt man Lebenserfahrung.“
Da ich kein Wörterbuch dabei hatte, beließen wir es dabei und gingen erneut in Richtung Innenstadt.
Sie hatte sich bei mir untergehakt und machte einen glücklichen Eindruck.
„Joseph, Sie laufen heute ganz problemlos. Wie kommt das?“
„Ich hatte einen Unfall. Das Laufen fällt mir nur an bestimmten Tagen schwer. Warum weiß ich nicht. Sie haben recht, heute habe ich überhaupt keine Probleme.“
An einer Boutique hielten wir an und sie schaute ganz gebannt auf ein Kleid in der Auslage. Ich hatte schon Angst vor dem Einkaufsstress, den ich von Doris her kannte.
„Nein, lieber Freund, das will ich Ihnen nicht antun. Lassen Sie uns einen Apéritif nehmen, eine Kleinigkeit essen und wieder nach Hause fahren.“
Am späten Abend waren wir wieder in Arles.
Sie verabschiedete sich schnell und ich fiel nach meinem geliebten Bad ins Bett und schlief durch.
Erst als ich schon im Bett lag, fiel mir auf, dass bei meiner Ankunft stets ein Bad eingelassen war. „Toller Service“, dachte ich mir.
III.
Anne-Marie hatte vorgeschlagen, gleich nach dem Frühstück nach Saintes Maries zu fahren, weil sie mir noch die Camarque zeigen wollte.
Woher sollte sie auch wissen, dass ich mit Helene schon dreimal dort war.
Gleich hinter Arles musste ich auf eine kleine Straße nach links abbiegen. Es war eine Art Sackgasse.
„Hier stand die berühmte „Pont de Langlois“, die van Gogh gemalt hat“, erklärte sie mir und wies darauf hin, dass heute für die Touristen immer neue Standorte angegeben würden und dass die Brücke sogar anderenorts rekonstruiert worden sei.
Ich genoss es und fand immer mehr Gefallen an der Art und Weise ihrer Reiseführung.
Danach lotste sie mich auf der Landstraße neben der Rhône bis zur „Salin de Giraud“.
„Siehst Du Helene, das haben wir nicht gesehen“, sagte ich mir und schaute dabei Anne-Marie an. Sie war so ganz anders aber irgendwie doch wie Helene. Auf jeden Fall gefiel mir ihr schwarzes Haar besonders gut. Das machte sie jugendlicher.
Von einem aus Holzstämmen gezimmerten Aussichtsturm konnte man das riesige Areal der Saline überblicken. Große Bagger waren im Einsatz und das auf Halden gestapelte Salz wurde mit LKW abgefahren.
„Und jetzt möchte ich Ihnen noch ein Stück Strand zeigen, der sich an der Rhônemündung ständig verändert. Hoffentlich sind noch nicht zu viele Wohnmobilisten da. Dort gibt es nämlich keine Sanitäranlagen“, schlug Anne-Marie vor.
Helene hatte immer eine Karte oder einen Reiseführer auf dem Schoß und war begeistert, wenn sie etwas gefunden hatte.
Ich war erneut von Anne-Maries Reiseführung beeindruckt und nahm mir wieder einmal vor, nicht so oft an Helene zu denken und andere Frauen mit ihr zu vergleichen.
Der Strand war leer, kein Wohnmobilist weit und breit zu sehen. In den Dünen konnte man aber ihren Besuch erkennen.
Anne-Marie zog ihre Schuhe aus und ging mit den Füßen ins Wasser. Ich tat ihr gleich, schlug meine Hose aber nur so weit hoch, dass man die ekligen schwarzen Flecken an meinem linken Bein nicht sehen konnte.
Anne-Marie alberte für einen kurzen Augenblick regelrecht herum.
„Scheiß Krebs!“, hätte ich bald laut geschrien. Ich war wütend auf mich und diese ungerechte Welt.
Wir umfuhren den „Étang de Vaccarès“ und kamen gegen Mittag in Saintes Maries an.
Natürlich hatte sie mir vorher die Flamingos, die Stiere und wilden weißen Pferde gezeigt.
Ich tat so, als würde ich das alles zum ersten Mal sehen und Anne-Marie war eine glückliche Reiseführerin.
In einem kleinen Restaurant aßen wir einen Salat und tranken eine Flasche weißen Côtes du Rhône . „Wir müssen heute Abend sehr viel essen und trinken. Bis dahin ist fasten angesagt, Joseph. Doch jetzt müssen wir erst einmal in die Kirche, die Sie unbedingt sehen müssen. Außerdem möchte ich der heiligen Sara etwas opfern und im Gebet danken.“ „Ich bin ein sogenannter Heide, also kein Christ. Ist die heilige Sara nicht die Schutzpatronin der Zigeuner?“, fragte ich, weil ich nicht verstand, warum Anne-Marie der Sara ein Opfer bringen wollte. „Die heilige Sara ist nach Ansicht der Zigeuner die Dienerin der Marien. In der Camarque wird sie aber als Angehörige einer edlen Familie und Königin der Camarque betrachtet und sie ist auch die Schutzpatronin der Geschäftsleute. Meine Familie ist streng katholisch und deshalb möchte ich bei der heiligen Sara beten“, sagte sie ganz lieb und nett und ohne Unterton.
In der Kirche hielt ich mich nahe der Tür in der Oberkirche auf.
Anne-Marie ging zur heiligen Sara in die Unterkirche, bedeckte ihren Kopf mit einem Seidentuch, zündete eine Kerze an und betete sehr lange.
Ich kannte die Kirche bereits, war auch schon auf dem begehbaren Dach und setzte mich auf einen der Stühle. Es war nicht zu verhindern, dass ich weinen musste.
„Warum muss ich jetzt abtreten, wo ich doch diese wunderbare Frau kennengelernt habe? Das ist doch ungerecht!“, warf ich Gott vor.
Bevor wir die Kirche verließen, musste ich mir noch die heilige Sara mit den vielen Opfergaben in der Unterkirche ansehen. Meine Traurigkeit, die Anne-Marie nicht bemerkte, verging langsam.
Auf der Suche nach einem Café kamen wir an einem Schuhgeschäft vorbei. Durch das Schaufenster konnte man einen Kunden erkennen, der neue Schuhe anhatte und vor einem Spiegel stand, um sich die Haare zu richten. Ich fragte mich, ob der wohl Schuhe oder einen Kamm kauft.
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