In Genua ging Doris vor mir von Bord und bestieg einen von der Reederei bereitgestellten Bus, um in zweieinhalb Stunden die Stadt und die Gegend kennenzulernen.
Ich legte ihr einen Zettel auf den Tisch, auf dem ich versprach, sie nach der Kreuzfahrt in Marseille wieder abzuholen.
Danach verließ ich, wie mit dem Steward besprochen, das Schiff mit meinem kleinen Koffer und nahm ein Taxi zum Bahnhof in Genua, um mit dem Zug wieder zurück zu meinem Auto in Marseille zu fahren.
Noch 28 Wochen
I.
In Marseille wollte ich nicht bleiben. Die Stadt war mir zu groß, zu anonym, viel zu laut und zu hektisch.
„Sind das schon die ersten Anzeichen von Angst? Die Angst vor dem pulsierenden Leben, dem Lärm und der Hektik? Vor all dem, was ich früher zusammen mit Helene gesucht hatte und nicht genug davon bekommen konnte“, fragte ich mich.
„Jetzt sind es also nur noch 28 Wochen“, sagte ich mir und nahm mir vor, ein kleines Heftchen von mindestens 250 Seiten zu kaufen und jeden Tag einen kleinen Bericht über den Zustand meiner Melanome zu verfassen. So viele Seiten müsste das Heftchen schon haben. Man weiß ja nicht, ob es ein paar Tage mehr werden würden, redete ich mir die Angelegenheit selbst schön.
In Martigues hoffte ich, mehr Ruhe zu finden und auf die Rückkehr des Kreuzfahrtschiffes zu warten.
Das beste Hotel war eines der modernen Ketten, in denen die Zimmer meist nicht größer als die Kabinen auf dem Kreuzfahrtschiff sind.
„Das muss aber nicht sein für die letzten Tage“, sagte ich mir und fuhr bis Arles.
Dort stellte ich das Auto an der Rhône ab und ging zu Fuß in die Innenstadt.
Im Hotel „Jules César“ mietete ich bis zur Ankunft des Kreuzfahrtschiffes am nächsten Montag ein Zimmer mit einem großen Bett.
Ein Hotelboy holte mein Auto und ich beauftragte die Hausdame, sich um meine Wäsche zu kümmern. Danach nahm ich ein ausgiebiges Wannenbad und legte mich schlafen.
Was war das angenehm, endlich mein Bein unverdeckt zu lassen. Ich war mit mir und meinen Problemen wieder allein und es kam wieder ein leichtes Angstgefühl wegen der malignen Melanome an meinem Bein auf und ich fragte mich, wie das alles weitergehen sollte.
„Morgen wird die Welt wieder in Ordnung sein; wenigstens etwas anders“, redete ich mir ein und schlief auch bald tief und fest.
Im Frühstücksraum herrschte eine ungezwungene angenehme Atmosphäre.
Es gab in diesem ersten Haus am Platz keinen Dress-Code, aber man sah, dass die Strickjacken und Pullover der Gäste nicht in einem Billiggeschäft gekauft worden waren.
Nachdem ich die örtliche Zeitung gelesen hatte, war es fast schon Mittag. Zwischen 12 und 14 Uhr läuft in Südfrankreich - außer natürlich in den Restaurants - nichts mehr, das wusste ich.
Also stand erst einmal das Vertreten der Beine und ein Besuch des Cafés am „Place du Forum“ an.
Ich kannte Arles von früheren Besuchen und musste wieder an Helene denken. Auch sie mochte dieses typische Straßencafé neben dem kleinen Platz. Unter Bäumen stand ein Denkmal für Frédéric Mistral; eine Bronzestatue. Mistral im Anzug, Mantel über dem Arm, Stock und dem spitzen Kinnbart.
Wir haben damals das erste Mal in diesem Café gesessen.
Die Tische standen fast auf der Straße. Ein kleines Mädchen lief unter den Bäumen umher und kam plötzlich ganz aufgeregt zu seiner Mutter, die neben uns an einem Tisch einen kleinen Kaffee trank.
„Maman, Maman, der Mann dort drüben unter dem Baum steckt mir die Zunge heraus.“
Die Mutter wollte sofort wissen, welcher Mann so etwas machen würde.
„Na der da auf dem Sockel“, sagte das Kind außer sich. Es meinte den Spitzbart von Mistral.
Kurz danach hatte sich unmittelbar vor dem Café ein Auffahrunfall ereignet.
Ich hatte ihn nicht beobachtet. Helene hingegen war unmittelbare Augenzeugin geworden und machte sich Gedanken, ob sie als Zeugin vor Gericht aussagen müsste.
Es war aber alles ganz anders gekommen.
Zunächst hatten sich beide Fahrer beschimpft. Was sie genau gesagt haben, war für uns nicht zu verstehen. Es hatte sich eine Autoschlange gebildet und die ersten Wartenden hatten angefangen zu hupen. Das hatte aber die beiden Unfallbeteiligten weniger gestört, denn sie setzten sich in dem Café an einen Tisch und tauschten die Unfallbögen aus. Dabei haben beide einen Kaffee getrunken.
Da der gesamte Verkehr zum Stillstand gekommen war, stiegen auch die anderen wartenden Fahrer aus und gingen ins nächste Café. Es war langsam richtig still geworden ohne den üblichen Verkehrslärm. Nach einigen Minuten waren alle wieder in ihre Autos gestiegen und der Stau löste sich auf. Helene hatte amüsiert festgestellt, dass man hier als Richter bestimmt nicht so viel zu tun hätte wie bei uns zu Hause in Deutschland.
Ich ertappte mich, dass ich in letzter Zeit sehr oft an Helene dachte und beschloss, das zu ändern.
Mein Bein tat heute sehr weh und ich war froh, im Café zu sitzen. Die Sonne schien, es war warm und ich war wieder in Arles. Nur die Schmerzen in der linken Leiste erinnerten mich daran, dass ich heute noch in meinem neuen kleinen Buch etwas eintragen müsste.
Da war sie wieder die Angst.
„Oder war es schon Panik?“, fragte ich mich und wurde richtig wütend über meine Situation, die ich im Grunde als sehr ungerecht empfand.
Früher hatten mir hier in Arles die Stadthäuser mit ihren Dachterrassen und den offenbar nachträglich aufgesetzten „Lauben“ imponiert. Heute hatte ich nicht die richtige Muse, alles so wie früher zu sehen. Auch die vielen Sehenswürdigkeiten interessierten mich nicht wirklich und ich spazierte ziellos durch die Stadt. Aufgefallen war mir nur, dass sich in der Arena kein Gerüst mehr befand.
Gegen 15 Uhr saß ich wieder in dem Café am „Place de Forum“, bestellte mir einen kleinen Roten und versuchte, einen Brief an Helene zu schreiben. Warum und was ich ihr schreiben wollte, wusste ich eigentlich gar nicht.
Am Nachbartisch saßen eine Frau von ungefähr 50 Jahren und ein fürchterlich unsympathischer jüngerer Mann.
Beide verhandelten über etwas, was ich nicht ergründen konnte.
Es war eine sehr attraktive Frau. Ihr Haar war fast schwarz. Doris hätte bestimmt gewusst, ob es gefärbt oder nur getönt war.
Helene ging mir schon wieder durch den Kopf, weil ich überlegte, ob sie gewusst hätte, wie diese Frau zu ihrem schönen Haar gekommen sei.
Völlig gedankenverloren bestellte ich mir auf Deutsch einen neuen Wein. Der Kellner schaute mich eigenartig an und ich merkte, was ich angestellt hatte. Ich entschuldigte mich und bestellte auf Französisch.
Auch die interessante Frau vom Nebentisch schaute mich amüsiert an.
Dabei sah sie richtig hübsch aus. Bislang hatte sie offenbar ernsthaft verhandelt und war gestresst. Um ihre Augen hatten sich kleine süße Fältchen gebildet.
„Das ist ja eine tolle Frau“, dachte ich mir und versuchte meinen Brief an Helene weiterzuschreiben. Auf dem Papier stand lediglich: Liebe Helene, Du wirst es nicht glauben, aber ich sitze in ...
Ich ließ mir die Sonne ins Gesicht scheinen und hatte die Augen geschlossen. Trotzdem bemerkte ich, dass die Frau vom Nebentisch aufgestanden und in Richtung Toilette gegangen war. Es war nicht zu vermeiden, ich musste ihr nachschauen.
„Mann, hat die noch eine klasse Figur für ihr Alter, eine typische Französin“, dachte ich.
Als sie den Tisch verlassen hatte, griff ihr Verhandlungspartner sofort zu seinem portable und ich konnte hören, dass sein Verhandlungsspielraum bei maximal vierhundert lag.
Wie von höherer Stelle geleitet, beschloss ich, der Frau zu folgen und ihr zu sagen, was ich gerade zufällig gehört hatte.
Vor der Toilette sprach ich sie an und sagte: „Pardon Madame, ich weiß zwar nicht, worüber Sie verhandeln. Aber Ihr Partner hat gerade telefonisch erfahren, dass er bis vierhundert gehen kann. Vielleicht hilft Ihnen diese Information. Der Mann ist mir so unsympathisch, dass ich nicht anders konnte, als Sie anzusprechen und Ihnen das mitzuteilen. Hoffentlich bin ich Ihnen nicht zu nahegetreten, Madame.“
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