„Mama?“
Keine Reaktion.
„Mama! Asko! Was ist los mit euch?“
Mit zwei Schritten stand sie neben ihrer Mutter. Sie war wie erstarrt. Die Teigrolle in der Hand, schien sie mitten in ihrer Bewegung eingefroren zu sein. Asko saß da, als wäre er ein lebloser Plüschhund.
Trixie starrte ihre Mutter an, die sie überhaupt nicht zu bemerken schien. Sie stand einfach da als wäre sie aus Wachs. Trixie traute sich nicht, sie zu berühren.
„Mama – hörst Du mich? Sag’ doch was!“
Immer noch keine Reaktion.
Das war zu viel! Trixie rannte wie von der Tarantel gestochen aus der Küche, riss die Haustür auf – und bekam den nächsten Schreck: Da stand ihr Vater, der gerade vorhatte, die Tür aufzuschließen. Aber auch er wirkte wie eingefroren: Leicht nach vorn gebeugt, hielt er den Schlüssel in der Hand - genau in Höhe des Schlüssellochs.
Als Trixie sah, dass auch er sie nicht wahrnahm, drückte sie sich schnell an ihm vorbei und lief auf die Straße. Weit und breit war niemand zu sehen, aber irgendetwas war auch hier seltsam. Da fiel ihr auf, dass sich nicht der geringste Lufthauch regte. Außerdem war es absolut still – kein Laut war zu hören. Es war fast, als hätte jemand einen Film angehalten und alles – Tiere, Menschen, einfach alle Dinge ringsumher - wären plötzlich zum Stillstand gekommen. Alles – bis auf Trixie. Sie blickte zum Himmel hinauf. Dort flogen ein paar Krähen. Das heißt: Sie standen in der Luft, denn auch sie bewegten sich nicht vom Fleck.
Und dann rannte sie, rannte einfach los. Wohin? Das wusste sie selbst nicht. Sie sah einen Mann auf einem Fahrrad, zwei Fußgänger – auch sie rührten sich nicht von der Stelle.
Keuchend blieb sie an einer Straßenecke stehen, um zu verschnaufen. Und auf einmal stutzte sie. Sie konnte es sich selbst noch nicht erklären, aber es war, als würde langsam eine bestimmte Ahnung in ihr aufkeimen. Es war einfach zu verrückt, doch sie fühlte, dass es einen Schlüssel geben musste, der all das hier erklärte. Ohne lange nachzudenken, ging sie wieder zurück, zuerst zögernd, dann immer schneller. Und schließlich lief sie, bis sie wieder pustend vor ihrem Zuhause stand. Sie fand ihren Vater noch immer in derselben Haltung vor der offenen Tür. Langsam ging sie ein paar Schritte am Haus entlang und blickte durch das Küchenfenster. Auch ihre Mutter hatte sich nicht das kleinste bisschen bewegt. Ohne ihren Blick abzuwenden, zog Trixie die Uhr aus der Hosentasche. Sie hatte sie nicht besonders weit aufgezogen – aber noch immer tickte sie leise vor sich hin. Schnell lief sie ins Haus zurück, schloss die Tür und ging zur Küche. Die Uhr in der Hand, beobachtete sie ihre Mutter und Asko, der immer noch unbeweglich bettelnd hinter ihr saß.
Trixie achtete auf das Ticken. Schließlich wurde es ein wenig leiser, verschwand nahezu – und die Uhr stand still.
„Asko – Du weißt doch, dass ich es nicht mag, wenn Du bettelst – und schon gar nicht in der Küche!“
Als Trixie die Stimme ihrer Mutter und gleichzeitig Askos begehrliches Winseln hörte, zuckte sie vor Schreck zusammen. Im selben Moment schloss ihr Vater die Haustür auf.
"Die Uhr!", schoss es ihr durch den Kopf: Das alles musste etwas mit dieser Uhr zu tun haben!
Nach dem Abendessen tat Trixie so, als sei sie furchtbar müde und gab vor, heute einmal etwas früher schlafen gehen zu wollen. In Wirklichkeit dachte sie an nichts anderes, als daran, ihre Vermutung zu überprüfen. Und vor allem hatte sie beschlossen, erst einmal niemandem etwas davon zu erzählen. Als sie endlich allein war, überlegte sie, wie sie es am besten anstellen sollte. Da hatte sie eine Idee.
Ein langer Faden, dazu ihr Haustürschlüssel: das war alles, was sie brauchte. Das eine Ende des Fadens knotete sie an den Schlüssel, das andere befestigte sie an der Lampe, die an der Decke ihres Zimmers hing. Der Faden war gerade so lang, dass ihr Pendel genau in der Mitte zwischen Fußboden und Decke baumelte. Sie stieß es kräftig an, so dass es frei hin und her schwingen konnte. Dann zog sie die Uhr auf – nur ein kleines bisschen, nicht einmal eine halbe Umdrehung. Sobald das Ticken erklang, stand der Schlüssel still – gerade als er sich an der höchsten Stelle seiner Schaukelbahn befand. Trixie nahm den Schlüssel vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger. Sie konnte ihn ohne Probleme bewegen. Ließ sie ihn los, blieb er jedoch genau dort, wo sie ihn hin geschoben hatte. Dann sah sie sich in ihrem Zimmer um. Es wirkte unverändert. Als die Taschenuhr wieder stillstand, begann der Schlüssel weiter zu pendeln.
„Ich kann - die Zeit anhalten“, flüsterte sie leise.
Sie sprang auf ihr Bett und strampelte vor Begeisterung mit allen Vieren in der Luft herum. „Jaaaaaaahuu!!!"
Schritte auf der Treppe - jemand klopfte an die Tür.
„Trixie - alles in Ordnung?“
„Ja – schon gut, Mama! Ich… ich musste nur niesen. Ich glaube, ich bekomme einen Schnupfen!“
„Ach so… Na, dann schlaf’ gut!“
Doch an Schlafen war jetzt natürlich nicht zu denken.
Als sie sicher war, dass ihre Eltern im Bett lagen, probierte sie weitere Dinge aus, die jedem Menschen wie Hexerei erschienen wären.
Sie warf sämtliche Münzen ihres Portemonnaies auf einmal in die Luft. Anstatt auf den Boden zu klimpern, blieben sie einfach dort hängen, wo sie waren und ließen sich anschließend nach Belieben in der Luft hin und her schieben. Die Stifte ihrer Federtasche stellte sie vom Fußboden bis zur Decke mit den Spitzen aufeinander. Nahm sie in der Mitte einen heraus, blieben die darüber einfach dort, wo sie waren. Immer wieder zog sie die Uhr ein Stückchen auf und wunderte sich über die verrückten Dinge, die dann möglich wurden. Stand die Uhr still, war der Zauber augenblicklich wieder vorbei. Trixie hatte schnell herausgefunden, wie weit sie die Uhr aufziehen musste, um die Zeit jeweils für eine bestimmte Dauer anzuhalten.
Eine Umdrehung ließ die Uhr genau fünfundvierzig Minuten ticken. Wie lange mochte die Zeit aber wohl stillstehen, wenn man sie ganz aufgezogen hatte? Es mussten auf jeden Fall mehrere Stunden sein, vielleicht sogar ein ganzer Tag? Doch irgendetwas hielt Trixie davon ab, das herauszufinden. Was, wenn etwas schiefginge? Andererseits - was sollte schon schiefgehen?
Trotzdem war ihr aber wohler, wenn sie erst einmal nur kurze Ausflüge in diese merkwürdige Welt machte, in der kein Herz schlug - außer ihrem eigenen.
Inzwischen war Trixie zum Umfallen müde. Zwar zeigte der Wecker neben ihrem Bett, dass nur eine viertel Stunde vergangen war, seit sie mit ihren Experimenten begonnen hatte. Doch diese Zeit war ja verstrichen, während die Uhr nicht aufgezogen war. Die hatte an diesem Abend aber insgesamt mehr als vier Stunden lang getickt.
Sorgfältig verstaute sie die Taschenuhr wieder in der Schreibtischschublade. Als sie endlich im Bett lag, kreisten ihre Gedanken. Ganz von allein ging das. Eigentlich wollte sie nur noch schlafen, aber unentwegt musste sie an all das denken, was heute geschehen war. Die Sache mit ihrer Kette. Die meerblaue Perle, die plötzlich wieder aufgetaucht war. Und dann natürlich die Uhr. Als sie Mama und Asko so stocksteif in der Küche entdeckt hatte, da war sie schon ziemlich von den Socken gewesen. Aber danach? „Eigentlich ganz schön cool, dass ich hinter das Geheimnis meiner Uhr gekommen bin. Nicht auszudenken, was man damit alles machen kann.“, dachte sie noch, während sie einschlief, "Tausend verrückte Dinge..."
In den nächsten Tagen gingen merkwürdige Dinge in der Stadt vor. Sogar die Lokalzeitung berichtete davon, denn irgendetwas schien tatsächlich nicht geheuer zu sein - wie z.B. im Garten eines gewissen Herrn Böckel:
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