Seine letzten Ausführungen gingen bereits in einem Jubelschrei unter. Großmutter hatte begeistert die Arme in die Luft gerissen. Sie klatschte in die Hände und verkündete den Wunsch wieder 50 Jahre alt sein zu wollen. Wir sollten gar nicht erst versuchen, sie von etwas anderem überzeugen zu wollen – sie würde sich von ihrem Entschluss nicht mehr abbringen lassen. Ihre 50er seien die glücklichsten Jahre ihres Lebens gewesen.
Das Entsetzen meiner Familie war während Alberts Ausführungen zunächst ehrfürchtigem Schweigen und dann bewunderndem Gemurmel gewichen und nach Großmutters Begeisterungsausbruch war die Stimmung am Tisch endgültig gelöst. Die Zuhörer waren nicht mehr zu halten. Meine Cousinen plapperten aufgeregt durcheinander. Vaters Mund nahm wieder seine gewohnte Form an und Mutter tupfte sich mit einer Serviette die letzten Tränen ab. Und doch war allen dabei klar, was dies für uns bedeutete: In aller erster Linie ein weiteres großes Familiengeheimnis. Niemand sonst durfte davon erfahren. Wir alle wollten schließlich weiterhin in Ruhe unseren Geschäften nachgehen. Genau jenen Geschäften, von denen wir uns offiziell bereits vor Jahren zurückgezogen hatten.
Während das aus den Schildkröten gewonnene Serum weiter seine Wirkung entfalten würde, sollten unsere Seniorin und ich daher erst einmal untertauchen. Wir wurden dazu angehalten, uns unbedingt im Haus versteckt zu halten. Meine Geschäftstermine wurden abgesagt. Ohne Diskussion. Niemand außerhalb des Familienkreises durfte über unseren wahren Zustand informiert werden. Sogar Melody durfte nicht eingeweiht werden. Sie würde früh genug von den Veränderungen an mir erfahren. Mutter meinte es wäre besser sie nicht unnötig zu beunruhigen. Sie müsste sich sicherlich auf ihre unheimlich anstrengenden Auftritte konzentrieren. Ich hatte dabei zum ersten Mal den Eindruck, dass sie Melody nicht besonders schätzte. Vielleicht wäre es besser gewesen in die diesem Falle nicht auf Mutter und den Rat zu hören. Vielleicht würde Melody dann noch leben. Manchmal quäle ich mich im Nachhinein mit derlei Überlegungen. Das betrifft auch die einzige Ausnahme, die damals vom Rat gestattet wurde. Der langjährige Hausarzt. Er durfte bei seiner täglichen Visite ebenfalls ins Bild gesetzt werden. Und diese Entscheidung war auf jeden Fall ein Fehler, wie sich kurz darauf herausstellte. Der Schock war zu viel für sein altes Herz.
Im Familienrat einigten wir uns darauf Großmutters »Verschwinden« damit zu erklären, dass es der ausdrückliche Wunsch der alten Dame gewesen sei, zur Familie ihres Enkels nach Südamerika zu ziehen. Sie wünschte dort ihr Lebensende zu verbringen und wollte dort auch ihre letzte Ruhe finden. Aus gesundheitlichen Gründen war der Umzug ganz überstürzt und über Nacht erfolgt. Man war in Sorge gewesen, ihr diesen Wunsch sonst nicht mehr erfüllen zu können. Das Pflegepersonal war somit nicht mehr nötig und wurde noch am selben Tag entlassen. Cousin Toni zeigte sich damals großzügig. Er stellte den überraschten Ex-Angestellten, die ahnungslos zum Dienstantritt erschienen waren, eine Stellung als Schildkrötenpfleger in Aussicht. Hierfür setzte er lediglich eine entsprechende Umschulung voraus, deren Kosten wir gerne übernommen hätten. Die so Beglückten zeigten sich aber wenig begeistert und verließen nach einer höflichen Verabschiedung unser Refugium. Daher war auch niemand mehr anwesend, der das Herz unseres alten Hausarztes wieder hätte in Schwung bringen können. Er verstarb im Kreise unserer Familie auf einem der Seidenteppiche im großen Salon. Traurig und in dieser Situation für uns alle äußerst unpassend. Cousin Toni kümmerte sich daher darum, dass sein Leichnam wenig später am Steuer seines Wagens im Straßengraben gefunden wurde. Ein weiteres Opfer dieser Vertuschungsaktion wurde kurze Zeit später eine angeblich beteiligte Pappel. Die Witwe des Doktors sah alleine in ihr die Schuld am Tod ihres Gatten und lies sie nur Tage später fällen.
Albert selbst war ohne weitere Fragen zurück in sein Labor entlassen worden, um das so wortreich beschriebene Medikament zur Beendung des Verjüngungsprozesses zu vollenden. Es sollte uns umgehend zur Verfügung gestellt werden. Ich war nach seinem Vortrag vor der Familie beunruhigt. Mir persönlich graute davor, wieder ganz jung zu sein. Ich erinnere mich nur ungern an meine Kindheit und Schulzeit. Mein Leben hatte doch eigentlich erst an meinem dreißigsten Geburtstag begonnen richtig Spaß zu machen.
Es war entsetzlich. Ich fühlte mich von Tag zu Tag frischer. Tatsächlich. Ich wurde jünger! Da mein eigentliches Ziel ja nicht wie bei Großmutter in einer massiven Verjüngung, sondern lediglich in der Unterbindung meines Alterungsprozesses lag, war ich mehr als erleichtert, als Albert das ergänzende Präparat tatsächlich wie versprochen in kurzer Zeit fertig stellen konnte. Ich kann nicht leugnen, dass ich froh darüber war, wie sich meine Haut in den wenigen Tagen verändert hatte: Meine Nasolabialfalte und die störenden Augenringe waren völlig verschwunden und kein einziges graues Haar störte mehr meinen Schopf. Sogar meine Nackenschmerzen waren wie weggeblasen und die Haut auf meinen Handrücken war glatt wie ein Bettlaken. Aber jung. Richtig jung wollte ich auf gar keinen Fall wieder werden. Was in jener Kanüle enthalten war, interessierte mich nicht. Ich lies Albert gewähren. Mit geschlossenen Augen ertrug ich den Schmerz, den die Nadel beim Einstich in meine Haut auslöste. Er war schnell verschwunden.
Frisch erholt nahm ich meine Arbeit wieder auf und berichtete meinen erstaunten Geschäftspartnern von einem Kuraufenthalt. Großmutter hingegen weigerte sich, dieses Zusatzpräparat einzunehmen. Sie schloss sich im Badezimmer ein und beobachtete zwischen Marmorplatten und goldenen Wasserhähnen die Rückkehr ihrer Jugend. Ihr unmäßiger Appetit vom Frühstück hielt weiterhin an. Ihr Hunger und unser gutes Zureden trieb sie schließlich dazu, sich durch das Oberlicht der Badezimmertür stärkende Delikatessen reichen zu lassen. Unsere Köche waren Tag und Nacht beschäftigt. Sie war fast unersättlich. Ihr Geschmack blieb dabei erlesen. Zwischendurch schien sie für einige Stunden zu schlafen. Kaum wieder erwacht, betrachtete sie sich hörbar im Spiegel. Dann stieß sie spitze Schreie aus und klang überglücklich. Sie verlangte nach Kleidern. Zuerst nach ihren alten Lieblingskleidern. Dann nach Mutters. Dann nach Mode-Magazinen. Es würde nichts mehr passen. Behauptete sie. Nur sie konnte die Veränderung an ihrem Körper verfolgen. Die gesamte Familie war ausgesperrt und spekulierte darüber, was hinter dieser Tür vor sich ging. Keiner von uns wusste wie lange und wie stark das Schildkrötenserum wirken würde. Die Axt, die Cousin Toni nach wenigen Stunden bereitgestellt hatte, blieb jedoch unbenutzt.
Als sie nach 14 Tagen endlich wieder ihr selbst gewähltes Gefängnis verlassen hatte, war sie fast nicht wieder zu erkennen. Oder eigentlich doch. Wir alle kannten schließlich die alten Fotos von ihr, die im gesamten Anwesen zu finden waren. Ihre ursprüngliche Haarfarbe war tatsächlich zurückgekehrt. Ihre Haut war glatt, rosig und strahlte mit ihren Augen um die Wette. Rank und schlank stand sie vor uns. Sie hatte tatsächlich ihr Wunschziel erreicht. Optisch, körperlich und geistig schien sie wieder in ihren Fünfzigern angekommen zu sein. Mit der Lebenserfahrung einer knapp Neunzigjährigen. Albert stellte später fest, dass ihr biologisches Alter damals ganz genau bei 49 Jahren lag. Sie war in den wenigen Tagen um 40 Jahre verjüngt worden. Ein unfassbares Resultat!
Unsere nun so verjüngte Großmutter stellten wir in der Öffentlichkeit als Tante Anna vor – eine neu entdeckte Halbschwester meiner Mutter, die bisher im Ausland gelebt hatte und nun in unseren Familienkreis aufgenommen worden war. Auch dies war ein Einfall von Cousin Toni und ein offizieller Beschluss in unserem Familienrat gewesen, an den es sich zwingend zu halten galt.
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