Da ich deutlich weniger Zeit mit meinen gepanzerten Kumpanen verbrachte als früher, beschäftigten sich die von mir so vernachlässigten Tiere mit sich selbst. Ihr dabei ungestörtes und ausgiebig ausgelebtes Liebesleben brachte unsere Familie nicht nur durch Lustrufe manche Nacht um den Schlaf, sondern machte uns auch zu stolzen Paten einer kleinen Schildkrötenzucht. Auch unsere vertauschten Ehrengäste wurden schnell freundlich aufgenommen. John F. Kennedy hatte sich vom ersten Tage an in beide Damen tief verliebt. Wir waren etwas in Sorge, dass Lady Di und Marilyn Monroe eifersüchtig werden könnten, doch die beiden hingen offensichtlich immer noch ihren blonden Triathleten von meiner Party nach und waren vom Treiben um sie herum völlig unbeeindruckt. Da der Sommer im Vorjahr sehr gut war, durften wir uns über einige große Nester freuen. Mittlerweile wissen wir, dass ein warmer Sommer mit lauen Abenden beste Voraussetzungen für üppige Gelege bietet.
Beim Anblick dieser Schildkröten-Eier verlor ich im ersten Moment fast die Fassung. Meine Wut wühlte sich bereits durch meine Innereien. Mir wurde heiß. Und übel. Ich sah in ihnen eine Gefahr. Eine weiße, glatte und unschuldige Bedrohung für unsere Familie und unsere Tradition. Genau jene Tradition, auf der die Macht und der gute Ruf unserer Familie fußt: Jede neue Schildkröte auf unserem Anwesen stand bis dato für einen erfolgreich ausgeführten Auftrag mit tödlichem Ausgang. Jeder der riesigen Panzer bewies unsere Schonungslosigkeit bei der Lösung eines Problems. Sie waren unsere Pokale, für die wir bewundert wurden. Ehrfürchtig. Ein guter Grund um uns Respekt zu erweisen und ein noch besserer um uns weiter zu empfehlen. Und genau so sollte es auch bleiben! Doch eben diese Tiere, die für den Tod jenes Menschen standen, dessen Namen sie trugen, zeugten nun neues Leben und verwandelten unser Anwesen vom Mahnmal zur Babystation. Eigentlich sogar für mich ein versöhnlicher Gedanke. Bevor meine Wut ihren Weg aus meinem Körper finden konnte, gelang es den Schildkröten mich zu beruhigen. Wir einigten uns darauf, dass diese Jungtiere nicht ewig bei uns bleiben sollten. Spätestens im Alter von zwanzig Jahren sollten sie uns verlassen müssen und auf jene Inseln zurückgebracht werden, woher ihre Eltern stammten. Und es sollte weiterhin nur einen Weg geben, der sie als ausgewachsenes Tier zu uns zurückführen könnte. Meine Wut war hellwach und kauerte in meiner rechten Schulter.
Um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen, investierte ich eine stattliche Summe in den Bau einer Aufzuchtstation. Der neue Anbau zu unserem Schildkrötenhaus bestand unter anderem aus einem Brutraum mit ausreichend hoher Luftfeuchtigkeit, in dem die Temperatur stetig zwischen 28 und 34 Grad Celsius gehalten wird und einem Aufzuchtbereich mit UV-Lampe. Seit dieser Zeit beschäftigen wir auch eine größere Anzahl reptilienerfahrener Pfleger und einen spezialisierten Tiermediziner, die sicherstellen, dass es unserem Nachwuchs an nichts fehlt. Von dem Augenblick an, als Großmutter das Schlüpfen unserer ersten Jungtiere miterleben durfte, war ihre Trauer um die beiden ausgetauschten Schildkröten wie weggeblasen. Sie war begeistert von diesen kleinen Wesen, die schon beim Verlassen ihres schützenden Eies ein greisenhaftes Aussehen haben. Bereits in seiner ersten Lebenswoche erhielt jedes Tier von ihr einen Namen. Später bemalte sie liebevoll ihre kleinen Panzer, um sie besser unterscheiden zu können. Dabei entwickelte sie eine unvorstellbare schöpferische Energie. Das Ergebnis ihrer Arbeit waren grafisch-gemusterte, floral verspielte, komplex psychedelische und archaisch reduzierte Panzer-Motive. Daneben schuf sie auch sehr schlichte aber leuchtende einfarbige Panzer und sogar solche mit Farbverläufen. Manchmal verwendete sie dabei zusätlich kleine Edelsteine oder Perlen. Ihr Einfallsreichtum kannte keine Grenzen.
Sie avancierte zur Mutter und Schutzpatronin der Aufzuchtstation und ihre matten Augen begannen wieder zu leuchten. Eine Katarakt hatte nacheinander beide ihrer einst so himmelblauen Augen vertrüben lassen. Hartnäckig verweigerte sie sich jedoch einer Operation. »Nichts da! Im Krankenhaus holt man sich den Tod!« pflegte sie uns entrüstet entgegenzuschmettern, wenn wir uns bemühten ihr diesen Eingriff nahe zu bringen. Sie hatte einst eine liebe Freundin verloren, die bei einem Routineeingriff zur Straffung ihres Oberlids ins Koma gefallen und daraus nicht mehr erwacht war.
Sooft wie möglich versuchte sie die bunte Schar der Schlüpflinge zu besuchen. Meist mehrmals am Tag und ungeachtet des Wetters. Auch als der Nachwuchs größer geworden war, blieb die Anzahl ihrer täglichen Besuche unverändert. Sie liebte die Tiere und die Tiere liebten sie. Im selben Maße wie sich Großmutter um die Kleinen mühte, achteten deren Eltern auf sie. Dabei tat sich John F. Kennedy besonders hervor. Er war immer schon der Gentleman unter unsere Herde gewesen. Nun wartete er geduldig vor der Verandatür, um die alte Dame zu ihren Schützlingen zu bringen und war sie müde geworden, so trug er sie dorthin zurück. Schon seit einigen Jahren war Großmutter sehr schlecht zu Fuß. Bereits in den Jahren vor meiner ersten Party hatten wir erste Anzeichen bemerkt. Ihr Zittern, der leicht schlurfende Gang und einige weitere Symptome waren aber seit den gemeinsamen Vorbereitungen wie weggeblasen gewesen. Das Nähen der Wolken und die Dekoration des Wintergartens mit hunderten von Seidenrosen schienen sie mit neuer Lebenskraft erfüllt zu haben. Nun jedoch forderte ihr hohes Alter endgültig seinen Tribut. Da ich mich viel auf Reisen befand und oftmals nur alle paar Wochen in den Schoß der Familie zurückkehrte, bemerkte ich diese Anzeichen als erster. Es gelang mir schnell, die ganze Familie darauf hinzuweisen und so in helle Aufregung zu versetzten. Ab diesem Zeitpunkt beobachteten wir gemeinsam die fortschreitende Gebrechlichkeit der betagten Dame.
Fast täglich verdeutlichten sich die Anzeichen und bald schwanden neben den körperlichen auch ihre geistigen Kräfte. Ihre Lebensenergie schien sich aus ihrem Körper schleichen zu wollen. Still und leise, aber stetig. Die alte Dame wurde dabei jeden Tag ein wenig weniger. Großmutter verwechselte nicht nur die Namen ihrer bunt bemalten Freunde, sondern auch die unserer Familienmitglieder. An besonders schlechten Tagen erkannte sie mich nicht mehr, worüber sie mit mir an guten Tagen lachen konnte und an nicht ganz so guten Tagen in Tränen ausbrach. Mal war ich für sie ein Fremder, mal ein lieber, längst verstorbener Freund mit dem sie gerade von einer Urlaubsreise zurückgekehrt war. Sie befand sich überhaupt oft vermeintlich auf Reisen von denen sie uns aufgeregt berichtete.
Ihre Augen wurden schwächer. Ihre Hände begannen zu zittern, so dass ihre Panzerbemalungen mit der Zeit immer expressiver und reduzierter wurden. Auf den Einsatz von Edelsteinen verzichtete sie ganz. Sie spezialisierte sich auf starke Farbkontraste und große Muster. Ihren schmerzenden Rücken und die steif werdenden Glieder bekämpfte sie stoisch mit Salben und Ölen, so dass sie stets von einer Wolke ätherischer Düfte umhüllt war. Man roch sie ehe man sie sah. Hören konnte sie man jedoch kaum. Denn trotz aller Leiden blieb sie dabei heiter und freute sich klaglos auf jeden neuen Tag.
Meine Mutter stand dieser Situation hilflos gegenüber. Bisher waren alle privaten Probleme von unserem Familienrat gelöst worden. Dabei war ihre eigene Mutter oft in der ersten Reihe gestanden. Nicht wegen ihrer Lebenserfahrung und Güte. Sie war eine starke Frau gewesen. Mit einer klaren Vorstellung davon, wie sich die Dinge und Menschen zu entwickeln hatten. Sie sprach mit lauter Stimme, hielt die Fäden in ihren Händen und führte uns alle daran durchs Leben. Nun wäre SIE es gewesen, die unsere Hilfe benötigte. Doch in diesem Fall waren wir machtlos. Den körperlichen Verfall an diesem geliebten Menschen zu erleben, ließ Mutter verzweifeln. Sie wollte diese Tatsache nicht akzeptieren. Meist korrigierte sie die alte Dame scharf, was zu vielen Tränen auf beiden Seiten führte. »Nun stell dich doch nicht so an, Mutter«. »Das weißt du doch, wir hatten erst gestern davon gesprochen. Hast du mir etwa nicht zugehört?« »Ich bitte dich! Das kannst du doch«. »Teresa? Hast du eben Teresa zu mir gesagt?! Ich weiß gar nicht, wie du darauf kommst! Konzentrier dich doch bitte endlich!« Ich vermute meine Mutter hoffte dabei, ihr Verhalten könnte die Realität verändern. Wenn sie nur fest genug ihre Augen vor der Wahrheit verschließen würde, würde sich diese Wahrheit auflösen. Würde sich wieder in das verwandeln was früher war. Lächerlich und doch erschütternd. Ich fühlte mich davon unangenehm berührt und wand mich ab. Von beiden Frauen. Von Großmutters Leid. Dem Unabänderlichen. Ich stürzte mich in meine Arbeit. Hielt sie wie ein Schutzschild vor mich. In unserem Unternehmen war ich schließlich unabkömmlich.
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