Nach ein paar freundschaftlichen, aber herzhaften Ohrfeigen stellte ich Albert wieder auf seine beiden Beine mit den schlotternden Knien und zog mich mit ihm ins Kaminzimmer meines schottischen Schlosses zurück, das ich neuerdings mit Melody bezogen hatte. Sie war damals auf Reisen, weshalb wir uns beide geräuschvoll in meine Chesterfield-Sessel fallen lassen konnten. Albert stöhnte. Seine ersten wiederkehrenden Lebensgeister bedachten mich mit Kommentaren, die alle sehr unwissenschaftlich waren und hier nicht erwähnt werden sollen. Danach besprachen wir uns erst einmal schweigend mit einer Flasche Dalmore Whisky. Die Flüssigkeit war deutlich älter als wir und wirkte sehr beruhigend auf uns. Nachdem Albert seinen anfänglichen Schock überwunden und er mir nochmals in deutlichen Worten seine Meinung gesagt hatte, kehrte sein fachliches Interesse zurück. »Ich war mir ja bereits darüber im Klaren, dass du reichlich exzentrisch bist und zu Verrücktheiten neigst, mein lieber T. Aber das! Das grenzt an Irrsinn.« Während er wieder und wieder in grübelndes Schweigen verfiel, knetete er fiebrig seine Unterlippe. Nach einer Weile richtete er sich auf. »Wo endet Wissensdurst und wo beginnt der Wahn. Ich denke wir beide sind gerade ganz in der Nähe dieses Punktes. Lass uns das Beste daraus machen. Und das einzig Sinnvolle. Lass uns forschen.« Er betrachtete mich wie eines seiner Versuchstiere. Er beobachtete meine Bewegungen, fühlte meinen Puls, meine Temperatur und meinen Blutdruck und lies sich von mir beinahe minütlich mein Befinden beschreiben. Jede meiner Regungen wurde von ihm aufmerksam verfolgt, bewertet und in einem kleinen schwarzen Büchlein notiert.
In dieser Nacht fanden wir beide fast keinen Schlaf. Im Gegensatz zu ihm fühlte ich mich aber am nächsten Morgen frisch und erholt. Albert rieb sich bei meinem Anblick die Augen, pfiff leise durch die Zähne und ergänzte seine Notizen mit dem Eintrag »optisch minus fünf«. Mindestens. Ich hatte einen gewaltigen Appetit und nötigte ihn dazu mich bereits in aller Frühe zum Frühstück an den Familientisch im Stammhaus zu begleiten. Dort machte ich mich über mehrere Rühreier mit Speck und einer ganzen Wurstplatte her, während mein Freund nur müde in seiner Kaffeetasse rührte, an einem Rosinenbrötchen nagte und mich mit geröteten Augen, unter denen dunkle Schatten lagen, beobachtete. Die allmählich eintreffenden Mitglieder meiner Familie wunderten sich ein wenig über uns. Besonders meine Mutter war sofort argwöhnisch. Sie kannte mich als notorischen Morgenmuffel. Während sie noch damit beschäftigt war, mein für sie seltsames Verhalten zu untersuchen, wurde plötzlich die Tür des Salons aufgestoßen und meine Großmutter stürmte in den Raum. »Meine Lieben! Seht mich an! Es ist ein Wunder geschehen!«
Einige Sekunden herrschte absolutes Schweigen am Tisch. Vollkommene Stille. Mutters Kaffeelöffel fiel klirrend zu Boden und Albert riss wieder seine Augen auf und griff sich an die Brust. Ich fürchtete schon, er würde erneut in Ohnmacht fallen. Erst als Tonis kleiner Sohn mit einem Jauchzer von seinem Stühlchen kletterte und auf seinen kurzen Beinen auf seine Ur-Oma zu stürmte, löste sich die allgemeine Erstarrung. Vater sprang ebenfalls auf und half unserem ältesten Familienmitglied an der Frühstückstafel Platz zu nehmen. Die alte Dame schien, genau wie ich, einen ungeheuren Appetit zu haben und verlangte nach Eiern Benedict mit Rosmarin und Sauce Hollandaise, frischem Orangensaft und einem großen Milchkaffee. Alle waren aufgesprungen, lachten und plapperten fröhlich durcheinander. Jeder wollte sie anfassen. Denn Großmutter sah um Jahre jünger aus. Albert notierte in einem zweiten Notizbuch mit cremefarbenem Einband »ebenfalls minus fünf. Mindestens.« Ihr graues Haar hatte zwar nicht über Nacht seine ursprüngliche Farbe zurück gewonnen, dennoch wirkte es gesund und kräftig. Kein Vergleich zu den schütteren wirren Strähnchen vom Vortag. Ihre Augen strahlten. Die fortschreitende Katarakt war verschwunden. Ihre Haut schien frisch und rosig und ihre rheumatischen Gelenkschmerzen verschwunden. Sie berichtete von ihrem Erwachen und dem ersten Blick in den Spiegel. Sie glaubte zu träumen oder aus einem bösen Traum erwacht zu sein, in dem sie alt und schwach war und im Sterben lag. Der Anblick ihres Bettes und der umstehenden medizinischen Geräte belehrte sie aber eines Besseren. Es war ein Wunder an ihr geschehen. Davon war sie überzeugt. Sie war überglücklich und die Familie freute sich mit ihr. Nur eine Person am Tisch schien nicht so recht an das Wunder zu glauben, sondern hatte sofort einen anderen Verdacht.
»Was um Himmels Willen habt ihr getan?« zischte meine Mutter Albert und mir zu. Ihre Augen waren dabei fast schwarz und zu schmalen Schlitzen verengt. Albert ließ seine Kaffeetasse und deren Inhalt nicht aus den Augen. Statt einer Ohnmacht hatte er sich diesmal für die Salzsäule entschieden. Mutters Blick bohrte sich in mein Gesicht. Für gewöhnlich lasse ich mich von niemandem einschüchtern, aber in diesem Moment fühlte ich mich klein und hilflos. Ja, was hatte ich nur getan? Während ich mir auszurechnen versuchte, wie viele Haarnadeln und Perlen ich für Mutters Besänftigung wohl erwerben müsste, begann ich ihr leise in kurzen Worten vom Auftrag der Schildkröten und unserem Experiment zu berichten. »Mutter, mach dir keine Sorgen. Wir haben alles im Griff…«. Ihre Mimik wechselte zwischen Zorn, Besorgnis und Angst. Zwischendurch entfuhren ihr kurze spitze Schreie. »Um Gottes Willen« und »Ach du liebe Zeit«. Einmal schlug sie ihre flache Hand auf die Tischplatte. Alle Augenpaare blickten auf uns. Am Ende tupfte sie sich mit ihrer Serviette die Augen, seufzte tief, legte ihre Hand auf meinen Arm und berief einen sofortigen Familienrat ein. »Wir müssen auf der Stelle reden.«
Erneut musste ich von den Geschehnissen berichten. Diesmal aber mit lauter Stimme und in aller Ausführlichkeit. Von unseren fortgeschrittenen Forschungen, den besorgten Schildkröten, unserem verzweifelten Eingreifen, meinem Selbstversuch und den doch so offensichtlich positiven Ergebnissen. Meine Familie war entsetzt. Wissenschaftliche Experimente an zwei Familienmitgliedern. Ohne vorherige Abstimmung und Genehmigung durch den Rat oder des Familienoberhauptes. Ein Affront gegen sämtliche ungeschriebene Gesetze und Regulierungen. Vaters Mund wurde zu einem schmalen Strich in seinem Gesicht. Zwischen seinen Augenbrauen bildeten sich kühne Falten. Das sah nicht gut aus. Er war besorgt.
Albert war neben mir bereits gleich zu Anfang dieser Anhörung zu einem Häufchen Elend zusammen gesunken. Seine Salzsäulenpose hielt weiter an. Erst als mein Vater direkt das Wort an ihn richtete, schreckte er auf und kam zu sich. Auf seine Arbeit angesprochen, erwachte endlich wieder der Wissenschaftler in ihm zum Leben. Er erhob sich und erklärte mit wenigen Gesten und für alle gut verständlich die Möglichkeiten des Wirkstoffes, den wir aus den Genen der Schildkröten extrahiert hatten. »Sehen Sie, meine Damen und Herren. Zusammenfassend ist zu sagen: Das Potential von G.O.D. 08-15 ist gigantisch. Zweifelsohne. Es gilt aber zunächst die Wirkung des Mittels beim einzelnen Individuum genauestens zu beobachten. Hier sind meiner Meinung nach ganz unterschiedliche Reaktionen zu erwarten. Ich gehe aber davon aus, dass das Serum die Zellpolarität und damit die Teilungs- und Regenerationsfähigkeit der Stammzellen wieder herstellen kann. Stellen Sie sich vor: so können degenerative Erkrankungen gestoppt werden. Im besten Falle kann sogar der Alterungsprozess völlig umgekehrt werden. Das ist bahnbrechend! Bahn-brech-end! Und seien sie unbesorgt: Ein Mittel, das diesen möglichen Verjüngungsprozess wieder stoppen kann, steht bereits kurz vor Vollendung. Es wird zukünftig möglich sein, den Körper in jedem gewünschten Alter zu erhalten oder in jedes beliebige Alter zurückzuführen.« Bis das Medikament auf den Markt gebracht werden könnte, müsste es aber noch ein langwieriges Zulassungsverfahren durchlaufen, was vermutlich keiner von uns ohne die heimliche Verwendung des Mittels noch erleben würde.
Читать дальше