Aber der geplante Hafen war nie gebaut worden, und der Wellenbrecher streckte sich auf der anderen Seite der Bucht als nutzlose Sehenswürdigkeit eintausendvierhundert Meter weit ins Meer. Es war der deplatzierte Blattstiel, den ich beim Anflug gesehen hatte. Hinter ihm konnte ich als grauen Klecks im Dunst eine kleine Insel erkennen.
»Das ist Braye Beach«, sagte Mrs. Shearer, als wir aus dem Strandhafer getreten waren. »Etwas ähnlich Schönes sucht man im UK vergeblich!« Vorsichtig ging sie durch den lockeren Sand. »Mein Mann hat diese Inseln geliebt«, fuhr sie nach einer Weile fort. »Er mochte auch die ungezähmte Wildheit des Meeres, das sie umschließt. Wissen Sie, dass es hier einen Tidenhub von mehr als sechs Metern gibt? Im Süden der Insel erreicht die Strömung bei ablaufender Ebbe und aufkommender Flut elf Knoten! Die Einheimischen nennen diese gefährliche Stelle ‚The Race’.«
Sie wies auf den grauen Flecken im Dunst. »Zwischen Burhou, dem kleinen unbewohnten Eiland dort drüben, und Alderney lauert noch eine solche Schiffsfalle. Sie heißt ‚The Swinge’ und hat neun Knoten zu bieten. Viele Schiffe sind dort gesunken, aber wir waren mit unserem kleinen Segelboot nie in Gefahr. Howard hatte die Seekarte und die Gezeitentabellen natürlich im Kopf.«
Wir gingen näher ans Wasser, wo der Sand feucht und fest war. Auf dem Meer, das wieder einmal den harmlosen glatten Badesee spielte, rangen zwei Windsurfer mit der Flaute. »Howard war sich natürlich der Ehre bewusst, die das Kommando auf dem neuen Superschiff bedeutete. Aber er fuhr nicht so wahnsinnig gern auf diesen riesigen Kästen, so komfortabel das auch war. Er hatte eine Suite wie in einem Fünf–Sterne–Hotel und einen eigenen Steward. Doch er sagte, die Hunderttausend–Tonner seien keine Schiffe mehr, sondern schwimmende Güterbahnhöfe. Vergessen Sie nicht, dass er vor vierzig Jahren auf den ersten Containerschiffen gefahren ist, die gerade mal hundert der Blechboxen beförderten!« Sie schaute mich Verständnis heischend an.
»Wenn er auf der Brücke war, wollte er das Meer sehen. Er akzeptierte höchstens das Vorschiff seines Frachters zwischen sich und der unendlichen Weite des Ozeans. Er wollte Zeuge sein, wie der Bug die Wellen durchpflügte und mochte es nicht, wenn er von der See kaum etwas sah oder sie gar auf einem Monitor betrachten musste, weil ihm die Sicht nach vorn durch Containerberge verstellt war!«
Die Kapitänswitwe dachte eine Minute lang nach. »Er hat das Meer wirklich geliebt – mehr als mich, glaube ich. Er war ja auch in seinem Leben viel länger mit ihm zusammen als mit mir. Er verehrte und achtete die See. Für ihn war sie weder ein Transportmedium noch ein gewaltiger Wassertümpel; er betrachtete sie als ein Wesen, ein lebendes Ding mit Stimmungen wie Zorn und Frohmut, ein Hort zahlloser Geheimnisse. Nie hätte er Treibstoffbunker oder Schwerölfilter auf hoher See durchgespült oder Abfall über Bord werfen lassen. Nicht mal eine Zigarette durfte man bei ihm ins Meer schnippen!«
Sie lachte kurz, aber ihre Augen lachten nicht mit. »Wenn er jemanden dabei ertappte, fragte er ihn, ob er, wenn er bei Bekannten zu Besuch sei, in deren Wohnzimmer Zigarettenkippen auf den Teppich fallen lasse. Wenn der Angesprochene dann verneinte, sagte er, dann sei ja alles klar – drehte sich um und ging davon. Ich glaube, die Mannschaft hat ihn für ein wenig verschroben gehalten. Aber sie hatte Respekt vor ihm und fürchtete seinen Zorn.« Wieder ein kurzes, wissendes Lachen, und wieder blieben die Augen ernst.
»Als das britische Verteidigungsministerium Zehntausende Fässer voll Atommüll in den Ärmelkanal kippte, einen Teil davon in die Hurd–Tiefe nördlich von Alderney, geriet er außer sich vor Wut. An gleicher Stelle hatte die Regierung ja bereits ungeheure Mengen von Munition – Bomben, Granaten, Phosphorbrandsätze und Kampfgasgeschosse – versenkt. Und dann warf sie radioaktive Abfälle hinterher, die Millionen Jahre lang strahlen würden!
Er war im Grunde ein ruhiger Typ, aber wenn ich ihn in dieser Sache besänftigen wollte, schrie er mich an. ‚Das Meer ist unsere Lebensgrundlage’, tobte er, ‚und keine x–beliebige Müllkippe! Es ist die Straße unserer Schiffe, und es schenkt uns Fisch, Krustentiere und Muscheln, die wir essen. Man scheißt’« – sie sah mich entschuldigend an – »’nicht auf die Straße, und man schmeißt kein Gift in seinen Fischteich!’
1981 konnte ich ihn nur mit Mühe daran hindern, eine große Dummheit zu begehen. Er hatte vor, mit seinem Tanker die Versenkung der über 3000 Fässer, die damals vor Alderney verklappt wurden, wie mit einem Greenpeace–Schlauchboot zu behindern. Er wollte immer mit dem Kopf durch die Wand. Natürlich wäre er entlassen worden, wenn er das getan hätte!«
Sie schwieg einen Moment. Ich war überzeugt, dass sie mit ihrem Mann Zwiesprache hielt. »Aber natürlich hatte Howard recht«, fuhr sie fort. »Die radioaktive Belastung der Nordsee durch die strahlenden Abwasserfluten der Wiederaufarbeitungsfabriken in Sellafield oder La Haque ist schon schlimm genug. Und La Haque ist nur einen Katzensprung von Alderney entfernt!«
Wir gingen eine ganze Weile am Meer entlang, ohne dass Mrs. Shearer etwas sagte. Mir war kühl, und ich merkte, wie unterzuckert ich war. Außer den Cornflakes, zwei Tassen Kaffee und einem Käsesandwich im Flughafen von Guernsey hatte ich nichts zu mir genommen. Aber ich würde bald erfahren, was die Kapitänsgattin vom Untergang der »Palermo Express« wusste. Das war ein bisschen Hunger allemal wert.
»Howard war ein Kapitän der alten Schule«, fuhr sie fort. »Er nahm seine Pflichten sehr ernst, war akkurat, auf die Minute pünktlich und ein wenig pedantisch. Sie hätten mal seine Logbücher sehen sollen! Er vergaß keine Sekunde lang, welche Verantwortung er für Schiff, Ladung und Mannschaft hatte. Er war ein Arbeitstier, und sein Beruf ging immer vor. Darunter litt unsere Ehe. Sie zerbrach fast daran.«
Sie blieb plötzlich stehen und sah aufs Meer. Aus dem Braye Harbour tuckerte ein kleiner flacher Kahn ohne Ladebäume hervor, wohl ein Küstentankschiff. Vielleicht war es auch ein Schüttgutfrachter, der Müll zum Verbrennen nach Guernsey brachte. Das Schiffchen war unglaublich langsam und schien an dem Wellenbrecher aus dem 19. Jahrhundert, den es auf dem Weg ins offene Meer entlanglaufen musste, festzukleben. Dagegen war sogar die lahme »Starina« flott gewesen.
»Howard und ich wurden uns fremd«, sagte Mrs Shearer, »weil er so viele Jahre lang fast nie zu Hause war. Wenn er Landurlaub hatte, blieb er oft bei seinem Schiff, wenn es im Dock war und überholt, umgerüstet oder repariert wurde, oder er machte eine Fortbildung in Satellitennavigation, Containermanagement, Radar oder irgend etwas anderes. Er fand immer was. Es kamen ja ständig neue Geräte auf, die Verladung der Container wurde immer moderner und schneller, und alle paar Jahre änderten sich die Patente, die er besitzen musste, und er musste Prüfungen ablegen.
Und wenn er wirklich einmal in unser Haus nach Kent kam, war er ein Fremder. Er konnte oder wollte seinen Befehlston nicht ablegen und war kalt wie Eis. Wir hatten uns nichts zu sagen, und ich war jedes Mal heilfroh, wenn er wieder verschwand. Ich dachte nicht einmal mehr an ihn, wenn er auf See war – auch, weil er nie anrief. Ich weiß nicht, warum ich ihn nicht verließ.«
Sie lächelte traurig. »Vielleicht ahnte ich ja, dass sich eines Tages alles zum Guten wenden würde. Und wirklich: Als Howard mit 58 krank wurde und die Ärzte eine Zeit lang vermuteten, es sei Krebs, und er dann noch erfuhr, dass er mit 60 in Pension gehen musste und nicht bis 63 bleiben durfte, was er angestrebt hatte, änderte er sich von Grund auf. Er nahm sich Zeit für mich, brachte wie früher Geschenke mit, lud mich wieder zu Segeltörns ein, rief auch von See aus an. Er entschuldigte sich sogar bei mir für sein früheres Verhalten. Er war beinahe wieder wie nach unserer Hochzeit, nur ein wenig zerknitterter und grauer eben.« Noch ein halbes Lächeln.
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