Plötzlich kam für mich sekundenlang alles ins Rutschen, und als das Bild wieder stand, hatte sich mein Blickwinkel vollkommen geändert. Ich konnte auf einmal Howard und die beiden anderen Männer sehen. Ich nehme an, Howards Notebook war trotz der Gummimatte, auf der es stand, an die Schlingerleiste des Tisches gerutscht, und zwar schief, weil es nur mit seiner linken Seite den Halt verloren hatte.
Howard und der andere Offizier, ich glaube, es war der Norweger, stützten sich mit ausgestreckten Armen und den Knien an den Konsolen oder den Fenstern ab. Der Rudergänger hatte seinen Platz verlassen und saß zusammengesunken auf dem Boden, sich mit den Beinen abstützend. Für mich sah das ganz merkwürdig aus, denn weil die Kamera die Neigung des Schiffes mitmachte, hatte ich nur am Horizont erkennen können, wie die ‚Palermo Express’ wegkippte. Den Horizont konnte ich jetzt aber nicht mehr sehen. Für mich schien das Steuerhaus waagerecht, und es kam mir vor, als würden die Männer von einer unsichtbaren Kraft an die Wand gedrückt.
Ich war gelähmt vor Entsetzen. Und dann kam das Wasser. Ich sah, wie es von außen an den Fenstern aufgischte, sie dann überspülte und überall eindrang. Es rauschte und gurgelte grauenhaft. Ein riesiger schwarzer Schatten, wohl ein Container, der sich losgerissen hatte, knallte gegen die Fenster des Steuerhauses und zertrümmerte sie. Sofort waren die Männer verschwunden. Ich sah noch eine menschliche Gestalt vorbeischießen, die verzweifelt gegen die Strömung ankämpfte, aber weggerissen wurde wie ein Herbstblatt am Gully. Dann wurde der Monitor dunkel. Erst da bemerkte ich, dass ich Howards Namen schrie!«
Sie umkrampfte meine Hände und schaute mir tränenüberströmt ins Gesicht. »Ich weiß, es hört sich verrückt an, aber ich glaube, dass die ‚Palermo Express’ mit Volldampf unter Wasser gelaufen ist. Wie das möglich war, weiß ich nicht; aber ich verstehe eine Menge von Schiffen.«
»Ist Ihnen jetzt klar, warum ich niemand erzählen konnte, was geschehen war, und dass ich Sie angefleht habe, Stillschweigen zu bewahren?«, fragte sie nach zwei oder drei Minuten leisen Schluchzens, wieder zu mir aufschauend. »Was hätte ich sagen sollen? ‚Mein Mann ist vom Fliegenden Holländer versenkt worden?’«
Sie lachte böse durch die Tränen. »Ich hätte ihn dem Hohn und Spott der ganzen Zunft preisgegeben, nein: Der ganzen Welt! Man hätte geglaubt, dass er zum Zeitpunkt der Katastrophe betrunken oder auf Drogen war, nicht zurechnungsfähig oder krank. Man hätte seinen Ruf in den Schmutz gezogen und ihm die Schuld am Verlust des Schiffes gegeben. Können Sie sich die Schlagzeilen der Boulevardpresse vorstellen?«
Ich konnte. »Drei Tage vor der Pensionierung: Kapitän-Opa sieht Gespenster und versenkt nagelneues Superschiff« war wohl noch das Netteste, das man hätte erwarten dürfen.
Ich machte meine Hände los und fasste Mrs. Shearer am Arm. »Ich danke Ihnen sehr, dass Sie es auf sich genommen haben, mir vom Tod Ihres Mannes zu erzählen«, sagte ich. »Ich werde alles tun, um herauszufinden, was wirklich geschehen ist. Lassen Sie uns zurückgehen.«
Schweigend wanderten wir in Richtung Hotel. Das Meer plätscherte mit der schauspielerischen Routine, die es in Jahrmillionen erworben hatte, und gab sich unschuldig und friedlich. Die Windsurfer warteten immer noch auf eine nutzbare Brise, aber sie gaben nicht auf. Auch die vermummten Pärchen lagen noch da – so unverändert, als seien sie aus Fiberglas und von der Tourismusbehörde Alderneys in den Sand gelegt worden, damit der Strand nicht so leer wirkte.
Ich drehte mich nach dem Küstenmotorschiff um. Es schien weiterhin an dem uralten Wellenbrecher zu kleben, gab aber ebenfalls nicht auf. Stand in Alderney die Zeit still? Wie konnte hier alles so unerträglich normal sein, während anderswo Grauenhaftes und Gespenstisches geschah?
Szenen aus Mrs. Shearers Schilderung drängten sich mir als Bilder und veritable Video–Sequenzen auf, aber ich ließ sie nicht zu. Ich wollte nicht an das denken, was die Kapitänsfrau erzählt hatte; denn ich war ratlos wie selten in meinem Leben. Einerseits war ich sicher, dass sie mir keinen Bären aufgebunden hatte, andererseits konnte das, was sie mir anvertraut hatte, nur ein Hirngespinst sein, ein Albtraum, eine Wahnvorstellung.
Es gab ebenso wenig einen Fliegenden Holländer wie den pferdefüßigen und gehörnten Teufel, den weißbärtigen Weihnachtsmann oder Harry Potters altehrwürdiges Zauberer–Internat, und eines der größten Containerschiffe der Welt ging nicht einfach so unter, vor allem nicht so schnell.
Aber – holy cow! – genau da lag der Hund begraben! Es war abgesoffen, in all seiner mächtigen Größe, ohne Spuren zu hinterlassen, und die einzige Augen– und Ohrenzeugin gab in glaubwürdiger Art und Weise einem sagenhaften Geisterschiff die Schuld. Damn, damn, damn!
Ich hätte etwas darum gegeben, wenn ich meinen Frust hätte herausschreien können, aber natürlich verbot mir das meine Kinderstube. Was war das nur für ein verhexter Fall! Nichts, was ich zusammengetragen hatte, machte Sinn, passte zusammen oder brachte Licht in die Angelegenheit! Statt harter Fakten oder wasserdichter Beweise grub ich nur Groteskes und Bizarres aus, Müll aus der Rumpelkammer von Satans Großmutter: Einen angeblich vierhundert Jahre alten Nixenschwanz, den ein unbekanntes Segelschiff verloren hatte, einen Kunststoff, der so modern war, dass es ihn noch nicht gab und ihn nur die kleinen grünen Männchen zusammengerührt haben konnten, und den Fliegenden Holländer, ein Geisterschiff aus der Mottenkiste!
Und meine einzige Zeugin war ein personifizierter Widerspruch: Sie sprach allem Anschein nach die Wahrheit und kannte die Materie, denn sie hatte Schiffbau studiert; nach menschlichem Ermessen aber musste sie lügen – oder zumindest fantasieren! Damn, damn, damn!
Wie hatte ich das verdient? Welche schlimmen Sünden musste ich abbüßen? Hatten die Mächte, die mein Schicksal steuerten, vergessen, dass ich Jim Cunningham war, nicht Crocodile Dundee oder Indiana Jones?
Ich sehnte mich nach Laxmis Weisheit, ihrem messerscharfen Intellekt. Dieser Fall schaffte mich! Sollte ich ihn dem fetten Hogg überlassen, den Fahnderjob hinschmeißen und stattdessen im Londoner Oberhaus gedrechselte Reden halten, bei denen die adligen Peers schliefen? Brachte ich das über mich?
Ich merkte zu spät, dass Mrs. Shearer stehen geblieben war und schoss ein paar Schritte über sie hinaus. Rasch drehte ich um. Wir waren fast an der Stelle angelangt, wo der Trampelpfad zum Hotel in den Strandhafer abzweigte. »Nach seinem Tod hielt ich es weder in unserer Wohnung in Margate noch in dem Haus auf Guernsey aus«, sagte sie. »Alles erinnerte mich dort an Howard, verstehen Sie? Und dann die Anrufe der Reederei und von Freunden und Bekannten, die mir sagten, er sei ja nur vermisst; es gebe Hoffnung. Vielleicht sei er in einer Rettungsinsel und werde bald gefunden.
Was wussten die denn? Ich hatte Howard sterben gesehen oder gehört, aber ich konnte nichts erzählen. Es war schrecklich, und ich floh hierher. Aber hier ist er auch. Wissen Sie, dass ich jeden Abend die Anrufbeantworter in Margate und auf Guernsey abhöre, weil ich denke, er könnte es vielleicht doch geschafft haben?
Und nachts hole ich mein Notebook hervor, starte Skype, gebe seine Telefonnummer auf der ‚Palermo Express’ ein und lasse das Programm wählen. Es kommt immer nur das Besetztzeichen, und das tut weh, denn es gaukelt mir vor, dass er noch lebt und telefoniert. Wie schön wäre es, wenn seine Leitung wirklich besetzt wäre – und er noch auf der Brücke stünde!« Sie schaute zu Boden. »Ich vermisse ihn so! Ich habe Sehnsucht nach ihm wie zuletzt vor dreißig Jahren!«
Nach einer Pause, die mir ewig lang vorkam, fuhr sie fort. Sie sprach so leise, dass ich sie kaum verstehen konnte. »Und es ist ja auch unvorstellbar, dass er tot ist. Howard war der Inbegriff von Unzerstörbarkeit, Widerstandskraft, Härte. Er überwand alle Hindernisse, schaffte alles, was er sich vornahm. Er war wie ein Fels. Und jetzt soll er tot sein! Er ist verschwunden, und ich werde ihn nie mehr sehen. Nicht mal ein Grab werde ich haben, dem ich Blumen bringen und an dem ich stehen und mit ihm reden kann ...« Ihre Stimme verging.
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