Ich musste prüfen, ob dort Gurwass war, ob ich mich am richtigen Ufer nach vorne schob.
Gebauschte weiße Segel schoben einen dickbauchigen Viermaster in die Mitte des Belts. Der blaue Schiffsrumpf entfernte sich vom Land. Am Heck las ich GOVA in weißen Lettern. Wenn ich darüber nachdachte, besaßen alle Schiffe die weißen Zeichen. Aus welchem Hafen fuhren die Delmen? War es Gurwass, brauchte ich den Weg nur zurückzugehen; sollte es Harwass auf der anderen Seite des Belts sein, hatte ich ein Problem.
Erleichtert sah ich den unbekannten Hafen.
Die Sonne erschien und ich befand mich in Gefahr. Ich drehte mich um und lief, vielmehr humpelte ich zurück. Jäger des Meeres und des Landes mieden den Strand. Mit jenen aus der Luft sah das anders aus. Das Meer spülte oft zahme Fische oder Würmer an Land. Raubvögel verließen mit den ersten Sonnenstrahlen ihre Nester. Besonders die Sturzkrallen jagten gern einsame Zweibeiner wie mich. Jetzt lief ich nackt und wehrlos mit einem lahmen Arm um mein Leben. Die linke kältere Hand knetete die tauben rechten Finger, die warm waren. Überhaupt sah der Arm, bis auf ein rundes Brandloch, gesund und nicht abgestorben aus. Seit ich mich erinnern konnte, trug ich an den Beinen ebensolche sehr alte Narben.
Bisher hatte ich vermieden meinen Dauerbegleiter zu berühren. Seine Härte drückte auf meine Haut, das war ich gewohnt, das konnte ich spüren, obwohl ich meinen Arm nicht bewegen konnte. Ich legte schließlich meine linke kalte Hand auf meinen Wurm. Er wärmte mich.
Ein eigenartiges Gefühl durchströmte mich und ich öffnete vor Schreck die Hand. Seine Oberseite war weich, wurde aber sofort wieder hart. Ich blieb erschrocken stehen, musste mich zwingen, weiter zu laufen. Dafür hatte ich jetzt keine Zeit.
Sieben bis acht Ledergreife flogen in meine Richtung. Sturzkrallen folgten. Ich rannte, wie ich konnte. Vor mir sah ich meine Taschen und nahm einen süßlichen Geruch wahr. Die Jäger näherten sich. Ich hörte ihr Kreischen. Sie hatten mich bemerkt. Der schrille Ton drang durch jede Faser meines Körpers. Ich spurtete weiter. Viele Schritte lagen zwischen mir und meiner Rettung. Erst jetzt sah ich den wimmelnden Teppich auf dem Wasser. Daher der Geruch. Meine Sachen lagen dort, wo der sprudelnde Belag in Kürze an Land schwappte. Die Würmer zappelten darin und lockten die Ledergreife und Sturzkrallen an.
Ich hielt weiter mit der linken Hand den schlackernden, tauben Arm fest. Die fliegenden Jäger stürzten herab, einer zielte auf mich. Der Schatten verdunkelte meinen eigenen. Ich musste flotter sein als er, obwohl er größer wurde. Ich sprang wie ein Naveren. Da lag der Stock. Ich rollte mich über den Boden, griff das Langholz und drehte mich auf den Rücken. Das aufragende Ende kreiste. Das Kreischen zog meine Ohren zusammen, ein unerträglicher Ton, als zwei Flügel schnell schlagend den Sturz abfingen. Enttäuscht wandte er sich ab und folgte seinen Genossen, die über dem Wasser schwebend ihre Schnäbel genüsslich in die wimmelnde Masse stießen. Fast durchsichtige fingerdicke zappelnde Fäden verschwanden in den Schlünden. Ich musste auf der Stelle fort. Dieses Festessen lockte alle Fleischfresser an.
Gierig schluckten die herab sausenden Ledergreife und Sturzkrallen die Würmer, füllten ihre Bäuche und taumelten bereits überfressen in der Luft. Die Doppelflossen dreier Schnapper zogen um die Fadenmasse ihre Bahn. Ein aufgerissenes Maul stieß aus dem Wasser, der Körper folgte und tänzelte mit der Schwanzflosse über den Wellen und schnappte sich einen unbeholfenen satten Ledergreif. Der Schrei verstummte abrupt, als beide unter Wasser verschwanden. Ich verlor keine Zeit. Mit der linken Hand stopfte ich die Taschen voll. Die Riemen zog ich über den Hals und lief mit dem Stock in der heilen Hand los. In sicherer Entfernung blieb ich stehen, holte Kleidung heraus und zog mich hektisch an, während ich weitere anfliegende Sturzkrallen sah und am Rande des Sandstreifens kleine schnüffelnde Nestres. Mein beschaulicher Strand verwandelte sich in eine Kampfzone. Die ersten Fäden schwappten ans Ufer und zappelten. Die Jäger des Bodens rannten herbei und fraßen sie. Naveren kamen hinzu und hatten mehr Interesse an der fliegenden Beute. Ich wandte mich ab, bevor sie mich rochen, und lief wieder um mein Leben.
Als ich dicke dornige Nadelbäume sah, bog ich nach links ab und verließ den Strand. Mit einem Arm dauerte es, bis ich sicher oben saß. Mit dem Mund öffnete ich einen Schleimzylinder und bestrich die Wunden, die endgültig kühl blieben. Jetzt heilten die Kratzer.
Mein rechter Arm machte mir Sorgen. Mit einem gesunden Arm war ich in der Wildnis tot.
Vorerst saß ich sicher auf einem Dorn. Um mich herum standen abwechselnd Nadel- und Laubbäume. Wie in Tawa und allen anderen Städten bildeten sie die fast undurchdringliche Grenze zwischen Stadt und Wildnis. Die Menschen setzten sie dicht, damit nistende Vögel nicht den Boden erreichen konnten. Schmackhafte Fleischlieferanten fehlten in der Dunkelheit dieses künstlichen Gürtels. Das kümmerte mich jetzt nicht.
Ich musste mir das taube Stück Fleisch an der Schulter erklären.
Bisher betrachtete ich uns Menschen als einzige denkende Wesen in meiner Welt. Jetzt musste ich erfahren, wie mühelos der Meeresriese unbekannte Erinnerungen lesen konnte. Unter der Meeresoberfläche herrschte eine Art, die auch die Kraft nutzte. Ich konnte mit dem Wesen kommunizieren, besaß einen Zugang zumindest zu dessen Bildern. Eins davon hielt ich fest, das dem ähnelte, welches der Vielarmer aus meiner Erinnerung ausgesucht hatte. Dieses Bild zeigte vier Menschen: drei Erwachsene und ein Kind in Tentakeln gefangen. Die drei Erwachsenen hingen schlaff in den Saugarmen, während das Kind die Arme und Beine von sich streckte, sich zu wehren schien. Mir missfiel, dass die anderen wie ergeben in den Armen hingen.
Zwei Bilder, ein Moment.
Das Wesen betrachtete mich, die Männer und die Frau.
Ich sah zu meinem Vater und meiner Mutter. Der Mann im Hintergrund verschwamm undeutlich.
Ein Schleier überzog beide Bilder, trübte sie. Ich wusste sofort, dass meine Eltern durch den Vielarmer starben. Ich hatte mich gewehrt wie letzten Abend und überlebt. Das Wesen schonte diejenigen, die leben wollten, dachte ich.
Warum begehrten sie nicht auf? Sie kämpften nicht, auch nicht um ihren Sohn. Mochte die Erklärung gallig zu schlucken sein, eine andere zu suchen, verweigerte ich mir. Hätte ich die Bilder doch nie gesehen.
Das Meerungeheuer riss mein Weltbild aus der Verankerung. Wie hatte ich, ein zerbrechlicher Mensch, überhaupt eine Verbindung mit dem Giganten aufbauen können? Was sagten die Delmen, wenn ich ihnen das Wesen beschrieb? Delmen, die Herren der Meere, ha. Jetzt kannte ich die Wahrheit. Die Tiefe duldete sie nur.
Mein Arm? Nach wie vor sah er unverletzt aus, blieb weiterhin aber unbeweglich. Der Kontakt zwischen DAL und dem Fangarm löste die Erschütterung aus und machte den Arm nutzlos.
Mein Armreif? Seit der Verbindung begleitete mich der Schmerz. Ich erfuhr, dass Erwachsene meine Arme und Beine packten, nachdem Oxba vergeblich den zappelnden Wurm um mein Gelenk wickelte. Der Fleischfaden wollte nicht. Die drei wandten ihre Gesichter ab, damit ich sie nicht sah, niemals wiedererkannte. Oxba hielt das Band fest umklammert, bis das weiche Band unter Zwang sich mit mir verband und sofort versteifte.
Am Ende sah ich die anderen sich ordentlich verwandeln, wie sie in die Nischen gingen.
Alle und besonders meine damaligen Freunde wandten sich von mir ab, als ich nach der Verwandlung jeden überragte. Ich fragte mich, was ich falsch gemacht hatte. Niemand sprach mit mir.
Ich stürzte oft ins Meer, ohne zu sterben. Stets spülte die Tiefe meinen Körper an Land wie einen unwillkommenen Gast. Das Wasser wollte mich auch nicht.
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