1 ...8 9 10 12 13 14 ...20 Nachdem Oxba wegging, zerrte die Einsamkeit an mir, weil er ein Mensch war, den ich mit meinen Fragen vertrieben hatte. Das Streicheln einer bewusstlosen Navere oder die sanften Flossenschläge kleiner Schuppenstreichler mussten mir genügen. Ich... . Eine Veränderung im Wasser riss mich aus meinem Selbstmitleid. Der Druck nahm zu, als ob die Tiefe nach oben drang. Etwas Riesiges kam zu mir. Die kleinen Wasserwesen spritzten in alle Richtungen davon. Ich beeilte mich, an die Oberfläche zu gelangen. Die Panik siegte und verlangte Luft. Ich verspürte keine Lust, mit den Zähnen eines mächtigen Raubfisches Bekanntschaft zu machen. Ich trat Wasser. Ein schleimiger Tentakel packte mich am Fuß, zitterte und ließ mich sofort los, als hätte er einen Schlag bekommen. Ich hoffte, dass mich dies rettete und stieß weiter nach oben vor. Das schwindende Licht war näher als vorhin. Ein zweiter Schlingarm packte mich, auch er hielt es nicht lange an dem Fuß aus und entließ mich. Ich strampelte weiter, blickte nicht zurück. Mein Angreifer lernte schnell und war mit seinen Armen in der Überzahl. Ein Tentakel zog, ließ los, ein anderer zog, ließ los, dass ich stetig nach unten in die Tiefe gerissen wurde. Ich schlug mit den Armen umher. Ich brauchte Luft. Meine Lungen schienen zu platzen. Viele Arme streiften, umwickelten mich, zitterten, ließen ab, als ob jeder Kontakt mit mir Schmerzen bereitete. Einer glitt an meinem rechten Arm ab und traf mein hartes Armband.
Ein Knall in meinem Kopf betäubte mich, und eine schmetternde Druckwelle riss mich fort. Tausend Bilder auf einmal schossen durch meinen Kopf. Ich wirbelte umher und trieb bewegungslos in die Tiefe. Die Zeit schien still zu stehen. Ich öffnete die Augen und sah das größte Wasserwesen. Unzählige Tentakel wuchsen aus dem Körper, der ebenfalls wie tot sich entfernte. Die Fangarme schlafften nach unten ab.
Gelähmt war ich eine leichte Beute der blutrünstigen Schnapper.
Ein durchsichtiger Stein erschien mir plötzlich, darin waren zwei meergrüne Augen. Ein Befehl klang in meinen Ohren.
„Lebe!“
Ein Finger, zwei Finger. Schmerz. Der starre Wasserriese driftete fort. Drei Finger. Ein Fuß. Ein Bein. Ich schüttelte mich, wollte die Lähmung loswerden, bevor der Riese erwachte und mich tötete. Ich bewegte die Füße wie Paddel und näherte mich dem Licht. Ohne den rechten Arm, der total ausfiel, stieß ich nach oben mit allem, was ich bewegen konnte, und schwamm um mein Leben. Die Reste des Tages sah ich verschwinden. Dann packte mich der dickste Tentakel dieser Kreatur. Das war das Ende.
Der Wasserdruck nahm stetig zu. Bald platzte ich, wenn ich tiefer kam. Vier Augen, dick wie Naveren-Schädel, gierten mich an. Eine Flut Bilder stürmte wieder auf mich ein, alle unbekannt, alle neu – und doch alt.
Das Wesen ließ mich nicht los.
Es durchleuchtete, prüfte mich. Als ein Bild länger verharrte, schmerzte mein rechter Arm wie nie zuvor. DAL! Wie eine Klaue quetschte mein bisher regungsloses Armband mein Handgelenk. Mir schien, weit vom Knochen war er nicht entfernt. Ich achtete nicht darauf. Der Tentakelfisch drang in meinen Kopf. Ich plante nicht, das zu erwidern. Es geschah einfach und ohne Absicht. Zerborstene Schiffe. Gigantische Wale. Blaue Menschen in Stücke zerrissen. Das Monster wehrte sich, dass ich seine Bilder sah, besonders eins. Vergeblich. Schwächer werdend nahm ich verblüfft wahr, dass ein Menschlein wie ich, klein und zerbrechlich, Macht über diesen Meeresriesen besaß. Ich erhielt Informationen, die ich ins Gedächtnis einbrannte, warum auch immer. Ich starb doch. Verlassen. Einsam. Im Belt. Eine Unterwasserwelt, geordnet, wie unsere.
Ein Schrei in meinem Kopf riss mich aus meiner Starre. Ich wehrte mich, schüttelte Arm und Beine. Mein Kopf schien zu bersten. Nichts anderes konnte dieser weitere Schmerz bedeuten. Mit unvorstellbarer Geschwindigkeit schoss das Wesen nach oben - mit mir voran. Der fleischige Arm hob mich aus dem Wasser, das spürte ich, weil mein Mund automatisch nach Luft schnappte, und ließ mich los. Ein Bild, das sich der Vielarmer aus meinen verschütteten Erinnerungen länger angeschaut hatte, nahm ich mit. Ein Mann, eine Frau und ein zweiter Mann. Gefangen in denselben fleischigen Armen, denen ich jetzt entkam.
Dann verschmolzen die Farben des Belts und des Himmels zu reinem Schwarz.
Sandboden weckte mich. Kleine Wellen schoben meinen schlaffen Körper vor und zogen ihn mit dem Sog wieder zurück. Ich öffnete die Augen und sah hinauf zu den zahllosen Sternen, die über mir leuchteten. Nach ihrem Stand verdrängte der kommende Tag bald diese Nacht. Ich bewegte die Finger. Es blieb bei kläglichen Versuchen. Der rechte Arm hing taub herunter. Die Beine schienen nicht auf Befehle zu hören. Ich wusste nicht, wo ich lag. An irgendeinem Strand am Belt. Nackt. Den linken Arm beugte ich ein wenig.
Dieser Meeresgigant verschonte mich. Langsam begriff ich das unvorstellbare Überleben.
Die Lichter am Himmel beruhigten mich. Sie führten mich damals bis zum Eis, aus dem verwirrenden Nordgebirge heraus, als Naveren mich jagten. In der Wüste orientierte ich mich an ihnen.
Meine unkontrollierte Wut ließ mich gestern so weit schwimmen, dass ich in Lebensgefahr kam. Dadurch begegnete ich dem Meeresgiganten und durfte das Wertvollste sehen.
Ein weißer Mann, eine gelborange Frau, dahinter verschwommen ein blauer Mann. Alle drei gefangen in fleischigen Armen. Das Tentakelwesen wählte dieses Bild aus meiner Erinnerung, die mir nicht mehr zugänglich sein sollte. Ich aber sah das jetzt. Das Wesen hielt mich mit den Erwachsenen vor langer Zeit gefangen.
Ich kannte einfach die Wahrheit. Der weiße Mann und die Frau waren meine Eltern. Hatten sie überlebt, mich aber nirgendwo gefunden? Oder landeten sie an einem anderen unbekannten Strand und konnten nicht zurückkommen - zu mir. Ich suchte verzweifelt Erinnerungen, ein Bild, in dem wir gemeinsam frei kamen. Ich presste meine Lippen zusammen. Sie entkamen nicht. Sie starben, während ich weiterlebte.
Ich befahl mich ins Jetzt. Wenn ich bedauerte, darüber verzweifelte und dann bemitleidete, starb ich.
Mein rechter Arm schwebte nutzlos im Wasser. Die Fußzehen zwang ich sich zu biegen. Der funktionierende Arm drückte die Hand in den Sand, die sich darin verankerte. Ich stieß mein gesamtes Gewicht vom Boden ab in Richtung Ufer. Alle Zehen bewegten sich jetzt. Wieder stak der Arm in den Boden. Die Knie anziehen stellte ich mir vor. Die Beine blieben steif.
Stück für Stück schob ich mich vor, war eine leichte Beute für scharfe Reißzähne. Die Krallenspuren meiner Navere weichten auf, aber bluteten nicht. Die Luft kühlte wie das Wasser. Nach langer Zeit besiegte der Tag die Nacht. Mit den ersten Sonnenstrahlen lag ich im trockenen Sand.
Ich zwang mich hoch und klopfte meine Beine. Ich schlug die Faust auf die Schenkel und kniff, bis ich Schmerz empfand. Füße drehen, Knie anziehen, stets den Kopf in jede Richtung wenden. Schließlich hockte ich, stützte mich ab und stellte mich auf ein Bein, fiel um, wiederholte es. Der Körper gehorchte nur widerwillig. Schließlich stand ich auf zwei Beinen und torkelte vorwärts, fiel der Länge nach hin. Mühsames Aufstehen, Torkeln, Hinfallen, wieder und wieder, bis ich sicher einen Fuß vor den anderen setzte. Ich musste meine Taschen erreichen; die Naverenkratzer nochmal bespucken, wärmende Kleider brauchte ich und den durchsichtigen Stein, der mir in der aussichtslosesten Lage, in der ich jemals gesteckt hatte, Mut und Willen zurückgab. Den Strand kannte ich nicht. Nach wie vor hing der gefühllose Arm herunter wie ein Tau. Vor mir sah ich Häuser einer Stadt. Um nicht bemerkt zu werden, ließ ich mich sicherheitshalber zu Boden fallen und kroch vorwärts.
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