1 ...7 8 9 11 12 13 ...20 Dass sie eine Schlame war, ergab sich aus dem Namen mit Zischlaut. Nie zuvor nach meiner Verwandlung hatte jemand zu erkennen gegeben, dass man an mich dachte. Jetzt wollte ich sie kennenlernen, sie sehen. Ein gewöhnlicher Saramanth, ein Stein, der überall herumlag, aber für mich der wunderbarste Stein war, den es gab, ja, den ich je gesehen hatte. Mir schien, das Wasser war blauer, das Gras saftiger und Oxba gelbgrüner als zuvor.
„Caraschla ist vor zwei Jahren verwandelt worden. Sie ist die jüngste Schlame.“ Oxba sah mich direkt an. „Über die Gründe, warum sie dir einen nutzlosen Stein schickt, verlor sie kein Wort. Ich soll dir wörtlich ausrichten: ,Stelle mir die Frage, die Balidan verändern wird!`“.
Meine Reaktion erwartete er. Ich musste jetzt dumm daher glotzen. Oxba schien fast zu lächeln und hob die Schulter. Dadurch wurde er mir fast sympathisch. Er verstand den Satz genauso wenig wie ich.
„Schlame!“, sagte er nur. „Wir wollen nicht mit ihnen und können nicht ohne sie.“
Er sagte es nur daher, allerdings ohne zu begreifen, was ich verstand, ohne viel Zeit mit ihnen zu verleben. Alle Menschengruppen standen in Abhängigkeit und in einem Gleichgewicht zueinander. Aber derzeit verschob sich einiges. Manche Gruppen schwächelten, andere strebten nach vorne. Die bisherige Balance schien zu zerfallen.
Das ging mich nichts an. Bald erreichte ich das Ende meiner Welt und musste entscheiden. Ein Stein und eine Frage bedeuteten nicht, dass jemand mich brauchte.
Oxba drehte sich um und ging, ohne sich zu verabschieden. Andere hätten sich aufgeregt. Ich freute mich nur, dass ich ein Treffen mit einem Menschen glimpflich, ja unverletzt überstand. Nach dem dritten Schritt drehte er leider ruckartig den Kopf zu mir, hielt an und fixierte mich.
Ich hatte mich zu früh gefreut. Alles an ihm gefiel mir nicht mehr: die Augen, das Gesicht, die Körperhaltung. Ich war ihm hilflos ausgeliefert und würde alles, wie immer, ertragen müssen.
„Erinnerst du dich an mich?“, fragte er. Seine Stimme ließ mich die Gefahr spüren.
Da kam wieder die Unsicherheit hoch, das Schamgefühl, das Wissen, keiner von ihnen zu sein.
Verschüttete Bilder, die ich mühsam vergraben hatte, schossen aus den Tiefen meiner Erinnerung. Ja, Oxba, wollte ich schreien und unterdrückte den Laut. Da jagte ein altbekannter Schmerz meinen rechten Arm hinauf bis an den Hals. Ich biss die Zähne zusammen. Vor Menschen, egal vor wem, zeigte ich niemals Schwäche und Schmerzen. Mein Wille zwang meine Wut herunter und offenbarte ein unbewegtes Gesicht.
Neue Schmerzen!
War Oxba das? Hatte er einen Grund? Die brauchten keinen Grund.
Meine Wut siegte wie gewöhnlich. Ich riss den plötzlich schwer gewordenen Arm hoch und hielt das eisenharte Armband, meinen nutzlosen schmerzenden DAL nach oben.
„Ja, Oxba, Ratsmitglied!“, stieß ich zähneknirschend hervor. „Ihr habt mir dies gewaltsam angelegt. Vor dem Eingang zum Sucherhort.“
Allein die Worte ruhig zu sprechen, kostete mich meine ganze Konzentration. Gleichzeitig verscheuchte ich alle Bilder und Erinnerungen an den Hort, indem ich an die Navere dachte und den Wunsch mit ihr zu gehen. Das beruhigte mich. Dass die Navere jetzt einen Schlamekopf trug, ließ mich den Schmerz endgültig vergessen.
Der Loxmen breitete die Arme aus.
„Nie zuvor war die Vereinigung schmerzhaft. Niemand hat je darüber nachgedacht, aber ... bedenkt man deine unbekannte Abstammung.“
Er kam langsam heran. Sein Gesicht gefiel mir weniger als seine Stimme. Ich war hilflos.
„Dein DAL ist hart?“, fragte er aufgeregt, als er das Armband genauer betrachtete.
Ich nahm den Arm im Nu herunter und legte schützend die freie Hand auf mein Band.
Ich sah seine Bewegung nur verschwommen, als die Kraft mich zu Boden warf. Tausend Dornen stachen in meine Haut. Zugleich schien ein Kübel Eiswasser über mir ausgeschüttet zu werden, dass ich fror. Mittlerweile hämmerten Nägel gegen meine Knochen. Ich wand mich am Boden, ohne einen Laut von mir zu geben. Rasch hörte die Attacke auf.
Ich schlug die Augen auf und sah das Ratsmitglied neben mir knien. Seine Hände verharrten unsicher über mir, als traute er sich nicht, mich zu berühren.
„Es tut mir leid! Ich hatte ... wir hatten ja keine Ahnung. Nach der Verwandlung hätte dies jeder abgewehrt.“
Ich spürte echte Bestürzung. Was hatte er sich gedacht? Wovon hatte er keine Ahnung? Welche wir?
Ich erkannte einen Verdacht in seinem Gesicht, an seiner Haltung. Er bereute den Angriff ehrlich. Oxba, der erste, der sich bei mir entschuldigte. Körperhaltungen und Gesichter hatte ich in den letzten Jahren lesen gelernt. Die standen oft im Gegensatz zu den Worten, die Menschen sprachen. Ich musste selbst lernen zu erkennen, was richtig und falsch war.
Ich winkte seine Bestürzung weg.
„Schon gut, Ratsmitglied. Andere Menschen haben mir weitaus Schlimmeres angetan“, beschwichtigte ich ihn. Ich richtete mich auf und sah ihn an.
Betroffenheit, Mitleid, Sorge und offensichtlich Angst.
„Du kannst nicht kräfftern!“, rief Oxba erschüttert.
Wie aufbauend, es offen gesagt zu bekommen.
In meinem Land besaßen alle Erwachsenen Zugang zur Kraft - bis auf mich. Die Anwesenheit des freundlichen Loxmen machte mir mehr zu schaffen als alle bisherigen Übergriffe, die ich in den Städten ergriff. Er murmelte vor sich hin, lief als nervöses Bündel auf und ab, umkreiste meine Taschen, sah entgeistert zum Belt hinaus und schüttelte andauernd den Kopf. Er ahnte nicht, dass ich jedes Wort verstand, ohne allerdings deren Sinn oder Zusammenhänge zu verstehen:
„Der Arme, keine Kraft ... was wird jetzt aus uns allen, wenn er nicht? ... Ich muss sofort los ... die anderen warnen ... keine Hoffnung ... muss ihn allein lassen ... sie ist gefährdet ... jetzt wichtiger.“ Er unterbrach seinen Gang und starrte mich an. Diese Miene kannte ich bestens. Ich gehörte nicht dazu, war nicht einer der ihren.
Weder gehörte ich zu den seefahrenden Delmen, den transportierenden Loxmen, den wissenden Schlamen noch zu den produzierenden Allmen, den liebenden Pfermen, den grabenden Dacmen, den mächtigen Vomen oder Lumen, die aller Freunde waren.
Für mich hielt niemand einen Gruppenempfang ab. Niemand schenkte mir eine Waffe. Daher durfte ich nur einen Stock halten. Niemand lehrte mich, die Kraft zu nutzen. Ich hatte keine Prüfung. Niemand wollte mit mir reden, niemand sagte mir, was ich war.
Mir blieb nur mein Name. Artir. Ein Name, der mit keiner Gruppe in Verbindung zu bringen war.
Auch auf die Gefahr hin, eine weitere Folter entgegen geschleudert zu bekommen, bestürmte ich Oxba. Ich bat, bettelte und schrie schließlich. Er schüttelte den Kopf mitleidig, wie zu einem kleinen Kind, dem man die Süßigkeiten verwehren muss, damit es gesund blieb. Das Ratsmitglied verließ mich rasch.
Als Oxba ohne Abschied hinter dem Hügel verschwand, erfüllte mich wieder Wut. Ich war sauer auf mich, dass ich den einzigen freundlichen Menschen mit harten Fragen bedrängt und vertrieben hatte. Warum vergaß ich, mit arglos wirkenden Fragen die Wahrheit aus Oxba heraus zu locken?
Ich stürzte mich in den Belt. Dem Wasser machte meine Wut nichts aus, dass ich mich dabei halb tot schwamm erst recht nicht. Dem Wasser war alles egal, wie der Luft oder dem Boden. Ich konnte auf die Erde stampfen, die Luft oder das Wasser schlagen. Das Wasser wich zurück, die Luft sowieso und der Fuß schmerzte. Erde blieb Erde. Luft blieb Luft. Wasser blieb Wasser.
Es dauerte lange, bis ich erschöpft trieb. Die Dämmerung brach über dem Belt ein. Den Untergang der Sonne hatte ich gar nicht mitbekommen, nicht bemerkt, wie weit hinaus ich geschwommen war. Den Strand, überhaupt das Land sah ich nicht. Ich tauchte. Hungrig war ich nicht. Etwas anderes brauchte ich. Nähe. Die ersten Fische schossen vor mir davon. Als sie wahrnahmen, dass ich sie nicht jagte, schwammen sie um mich herum. Mit ihren Flossen kitzelten sie mich an Armen, Beinen, Rücken und Brust.
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