Jetzt lebte das Armband, schmiegte sich an meine Haut. Der Kontakt mit dem Riesen musste dafür verantwortlich sein. Der Sucherhort entließ mich damals unwissend. Woher kamen DALs? Was waren sie? Jeder Mensch außer Kinder trug einen am Handgelenk.
Weil er mit mir unzufrieden war, machte er meine Verwandlung zunichte und mich zum Vertriebenen. Das vermutete ich. Jetzt klang das falsch. Oxbas Staunen über den harten Ring säte Zweifel. Der Loxmen kam zu mir, hatte Angst vor mir, dachte, ich könnte kräfftern. Als er feststellte, dass ich einen Steinring trug, erkannte er einen Zusammenhang, ohne mir etwas zu sagen. Er änderte sein Verhalten und verließ mich.
Kräffterte man mit DAL? Der Kontakt erschütterte das Wasser. Ein Zusammenstoß unterschiedlicher Kräfte lähmten sowohl mich als auch den Armowass. Ich gab ihm diesen Namen aufgrund der zahllosen Arme. Ich löste mich als erster von der Starre. Das erklärte, warum die Tentakel mich anfangs nicht fassen konnten. Sie hatten mein magisches Armband gespürt. Ich fand keinen anderen Grund.
Mit der DAL-Verschmelzung verlor ich die Erinnerungen an meine Kindheit. Gut, das geschah allen. Etwas musste falsch gelaufen sein, weil die Verbindung schmerzte und ich nicht kräfftern konnte. Hatte das mit der unbekannten Abstammung zu tun, die Oxba erwähnt hatte? Meine Machtlosigkeit entsetzte ihn. Demnach hoffte er darauf, dass ich kräfftern könne. Er und andere warteten auf mich. Gehörte er zu jenen, über die beide Brüder auf der Klippe sprachen? Für die ich eine Hoffnung sein sollte? Hoffnung wofür? Arbeitete Oxba mit der Schlame zusammen? Schickte Caraschla eine Botschaft, die jeder Stadtmensch verstand, nur ich nicht?
Welche meiner Fragen sollte dieses unermessliche Land retten? Ich hatte eine Unzahl im Kopf. Wollte das Land, wollten die Menschen überhaupt gerettet werden? Vor was? Ging es der Schlame nur um Menschen? Bestand ihr Balidan aus der Welt der Menschen innerhalb der Gürtel? Die Antworten musste ich bei ihr suchen, wenn ich sie hören wollte. Bisher zeigte mir niemand, dass er von-was-auch-immer befreit werden wollte. Die Sorgen oder Probleme der Gruppen kannte ich nicht.
In Gurwass wollte ich alles dafür tun, damit sie mich aufnahmen.
Ich widerstand dem Hunger mit knurrendem Magen. Meinen Proviant rationierte ich, solange der Arm schlaff blieb. Das nächste Essen erlaubte ich mir morgen früh.
Mit Zähnen und linker Hand knotete ich mein zweites Hemd um den Hals zu einer Schlinge und zog den Arm hinein. Er schlackerte nicht mehr. Weich und warm. Etwas wärmte meinen zuvor kalten linken Arm. Mein lebender Armreif schmiegte sich an die Haut. Keine Klaue, keine Schmerzen.
Als es dämmerte und der Abend den Tag verdrängte, befestigte ich eine volle Tasche im Nadelbaum, die ich im Notfall mit dem Stock erreichen konnte. In den anderen Beutel stopfte ich etwas Proviant und einen fast leeren Zylinder mit Naverenspeichel, falls ich in Kontakt mit einer Vomenkralle kam. Diesmal entschied ich, den Stock mitzunehmen. Erstmals betrat ich eine Stadt nachts. Ich näherte mich über den Sandstreifen und wartete vor der Bucht und den ersten Gebäuden auf die Nacht.
Die Sterne am schwarzen Himmel leuchteten hell.
Ein hundert Meter ausladendes Pflasterband trennte Kai und die gepflegten Häuser. Eine Gasse hinter diesen Gebäuden umlief parallel zum Kai die gesamte Bucht. Ich stand vor dem mit Holzbohlen befestigten Weg und sah in die Gasse.
Aus den Häusern drangen die Geräusche einer Stadt. Die Bauwerke rechts gehörten Delmen, links standen Loxmenhäuser, gebaut wie die Menschen, durch imposante Säulen gestützt, ragten sie in die Höhe. Die Delmenhäuser glichen sich, bildeten eine Einheit. Jedes Loxmenhaus war anders und unterschied sich von den anderen in Feinheiten.
Städte wiesen reine Gruppen-Viertel oder gemischte Viertel auf. Hafenstädte wie Gurwass, Plawass oder Harwass oder ein kleiner Ort wie Tawa zeigten dem Meer oder Belt die wellenförmigen Delmenhäuser. Deren Lage stand fest - am Kai. Die Delmen formten ihre Gebäude nach dem Bild brechender Wellen. Haus um Haus verbanden sie zu einer Reihe. Die vier ineinander verschachtelten Dächer eines Hauses stellten die Wellenspitze dar, nur eben dem Wasser zugewandt. Hinter der Wellenreihe ordneten sich die anderen Viertel. Jeder Ort, jede Stadt spielte mit den Farben und Formen. Gelbgrün für Loxmen, blau für Delmen, violett für Lumen, grasgrün für Allmen, braun für Dacmen, gelborange für Pfermen, rot für Schlamen und schwarz für Vomen. Sah man ein gelboranges Haus, hieß das, Pfermen wohnten hier. Ich konnte nicht sagen, warum sich die Menschengruppen unterschiedlich darstellten und kleideten. Für mich waren sie alle gleich.
Da ich zu keiner Gruppe gehörte, trug ich, was ich bekam. Ich trug Gramil, den robustesten Stoff, den die Pfermen herstellten. Niemand kleidete sich darin. Vor vielen Jahren warf eine alte Pferme in Salent einen grauschwarzen Ballen auf mich, als ich verletzt am Boden lag. Sie wollte mich erschlagen. Das gelang nicht und ich kroch mit dem Ballen davon. Er ergab zwei Hosen, zwei Kapuzen-Hemden und eine Decke. Die Pfermen verarbeiteten den Stoff so dicht und fest, dass er Kälte, Wärme und Schall abhielt. Die Jahre bleichten die vormals dunkle Farbe. Gegen Regen schützte ein Umhang aus Schnapperhaut. Ich trug meine Kleider, weil ich nichts Besseres fand. Den Umhang ließ ich diesmal zurück. Regen blieb aus, wenn Sterne klar leuchteten.
Ich schlich auf dem Bohlenweg, der dem Rund der Bucht nach links folgte. Meine im Sternlicht leuchtenden Haare versteckte ich unter der Kapuze. Der Stoff schirmte die Ohren kaum ab, obwohl er mein Gesicht verbarg.
„Ins Bett, sofort!“ Hinter mir.
„Wir müssen reden, Schatz!“ Links.
„Diese Vomen werden immer dreister und mein Mann tut nichts!“ Links.
„Morgen geht’s nach Plawass, sagt Kapitän Arden!“ Rechts.
„Ich brauche dich aber hier.“ Rechts.
„Sie töteten gestern Edmon. Willst du, dass ich auch tot bin? Ratsmitglied Denoda...“ Rechts.
„Lass mich mit der in Ruhe!“ Rechts.
Ich schlich und spähte in jede Ecke.
Die Gasse bog abrupt nach rechts ab und versteckte den weiteren Verlauf vor mir. Ich blieb stehen. Meine Sinne lauerten.
Eine Tür ging auf, warf das Licht auf ein Loxmenhaus. Im Schein sah ich zwei Schatten, die ineinander verschlungen im Eingang standen. Sie lösten sich. Eine Frau mit wallenden Haaren und ein Mann derselben Größe hielten sich an den Händen.
„Gehe nicht!“, bat er.
„Ich muss! Mein Bruder braucht mich.“
„Lass mich dich wenigstens über die Bucht bringen. Dein Bruder ist ein Delmen und versteht es.“
„Warum plötzlich besorgt? Alle Delmen scheinen durcheinander zu sein.“
„Die GOVA, Kapitän Edons Schiff, kam von Tawa. Sie berichten über Wellen der Tiefe. Dreißig Kilometer von hier. Das ist ein übles Zeichen, wenn die Argonats die Tiefe verlassen.“
„Ich bemerke keine Zeichen. Das Land ist friedlicher als jemals zuvor. Sorge dich nicht, Liebster! Arden hat einen guten Ruf als Kapitän. Ich muss zu meinem Bruder. Besuch mich, wenn du wieder da bist, Sardengo.“
Eine Pferme trug das Haar offen und gewellt wie die Tjellas ihre langen Mähnen. Im Norden sah ich viele dieser ungebärdigen Pflanzenfresser, im Süden weniger.
Die Tür schloss sich und das Dunkel der Nacht legte sich wieder auf die Gasse. Die Frau eilte davon. Ich ignorierte das Aufbegehren meiner Sinne, das Gefahr ankündigte, weil ich eine Stadt durchwanderte. Überall lauerte für mich Gefahr.
Als ich keine Schritte mehr hörte, schlich ich langsam weiter.
Aus den Häusern kamen Gesprächsfetzen. Die blauen Delmen und die gelbgrünen Loxmen misstrauten den schwarzen Vomen. Die Neun hätten wieder zugeschlagen und einen der ältesten Schlamen in Targent getötet. Die Sucher müssten bald aufbrechen, um rechtzeitig in Plawass anzukommen. Dieses Jahr nahm der Hort am Meer neue Sucher auf. Als ich den Namen Oxba vernahm, blieb ich stehen.
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