Während ich einen Schritt auf den Polizisten zu machte und vermitteln wollte, geschah das Unglaubliche: Melina drehte auf dem Absatz um und setzte sich wieder ins Auto, ohne ein Wort zu sagen! Ich glaubte an ein Wunder und war bereit, des lieben Friedens willen die Staatsmacht am längeren Hebel zu akzeptieren.
Doch voller Entsetzen sah ich sie im Handschuhfach des Autos wühlen. Hatte sie dort eine Waffe versteckt? Tatsächlich zog sie etwas daraus hervor, zu meiner Erleichterung war es nur ein Mobiltelefon. Das flaue Gefühl im Magen wich etwas. Während Melina telefonierte, hatten sich die Polizisten triumphierend in die sichere Umgebung ihres Wagens zurückgezogen.
Ich stand als einziger draußen und kam mir ziemlich nutzlos vor. Sollte ich nicht doch noch einmal die Chance nutzen und quasi von Mann zu Mann alles regeln? Wenn die Straße wirklich so unsicher war, taten die beiden Beamten nur ihre Pflicht. Allerdings war es noch lange kein Grund für ein solches Benehmen!
Ich beschloss, dass die Lage bestimmt auf sachlicher Ebene zu regeln war und trat an das geöffnete Fenster des Streifenwagens. Ich sah noch einmal hinüber zu Melina und bemerkte die seltsame Ruhe in ihrem Verhalten. Sie hatte ihre Arme hinter dem Kopf verschränkt, das Telefongespräch war beendet. Ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, sie wirkte sonderbar ruhig …
Ich atmete kräftig durch und wollte meine sorgsam gewählten Worte loswerden, als das Funkgerät des Wagens losplärrte. Der stumme Beifahrer und Kollege unseres überaus freundlichen Wortführers kurbelte einfach das Seitenfenster des Streifenwagens hoch und ließ mich stehen. Erregte Wortfetzen drangen nach draußen zu mir: „Kyrie??? Mein Herr??? Ali mia fora! Noch einmal von vorne ... Nè, amessos! Ja, sofort! ... Ke wäwia, natürlich, ... lipame para poli, tut mir sehr leid, then to ixera, das habe ich nicht gewusst, .... nè, nè! Ja, ja!”
Melina konnte unmöglich die Worte gehört haben, trotzdem hatte sich ihr Lächeln zu einem verdächtig breiten Grinsen gesteigert, während das blanke Entsetzen in den Mienen der Beamten stand. Sie winkte mich zu unserem Wagen zurück, ich nahm wieder neben ihr Platz und harrte der Dinge, die da kommen mussten.
Sichtlich betroffen und verstört entstiegen unsere Kontrahenten ihrem Fahrzeug, rückten ihre Uniformen zurecht und setzten sogar ihre Mützen auf. Sie wirkten blass und angeschlagen. Melina machte sich nicht die Mühe auszusteigen, ich folgte einfach ihrem Beispiel. Die Seitenscheibe kurbelte sie nur halb herunter, mit perfekt gespielter, gelangweilter Miene erwartete sie den Wortführer der beiden.
„Kyria Venizelou, ...” Er räusperte sich verlegen.
„Ich kann sie nicht verstehen, sprechen sie bitte lauter!”, provozierte sie ihn.
„Kyria Venizelou”, begann er noch einmal brav. „Es ist mir eine Ehre, Ihnen und Ihrem Begleiter unsere Eskorte nach Delphi anzubieten! Selbstverständlich ...” Es kostete ihn sichtlich Überwindung, weiter zu sprechen.
„Selbstverständlich möchte ich mich für die Äußerungen von meiner und meines Kollegen Seite in aller Form entschuldigen ...”
Komisch, von dem hatte ich bisher nicht einen Pieps gehört.
„Wenn Sie uns bitte folgen möchten! Bitte, bleiben Sie direkt hinter uns und achten Sie auf Steinschlag auf der Straße!” Sie entfernten die Straßensperre und winkten uns durch, hinter ihrem Fahrzeug verbarrikadierten sie den Weg erneut. Danach setzten sie sich vor uns und wiesen uns den Weg.
Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. „Wen hatten die denn am Funkgerät? Den Teufel persönlich?”
Melina griente. „So ähnlich! Der kommt doch auch wenn man ihn ruft ... Und der Esel von Polizist wollte vorhin nicht einmal den Präsidenten durchlassen. Das brachte mich auf die Idee, ihn anzurufen.”
Sie erzählte mir das so beiläufig, als ginge es um einen Plausch mit der eigenen Mutter am Telefon.
„Du willst mir weiß machen, dass du den Staatspräsidenten von Griechenland angerufen hast?!?”
„Nicht ganz!”, winkte sie bescheiden ab. „Aber den Polizeipräsidenten von Athen. Das reicht doch, oder?”
Nicht zu fassen! Meine Melina klimpert kurz mit den Wimpern, und schon steht der Polizeipräsident Athens stramm? Das klappt offensichtlich auch am Telefon... Aber so war sie eben, ich konnte ihr ja auch nichts abschlagen. Ich resignierte.
„Ich meine, das ist ja nicht so wichtig”, bemerkte ich ironisch. „Aber woher bei allen Göttern hast du seine Nummer?”
„Wir sind um ein paar Ecken verwandt, habe ich dir das nicht erzählt?”, fragte sie mit unschuldigem Augenaufschlag.
„Nein, hast du nicht!!! Ich glaube langsam, dass es einfacher ist, dem Wüstensand Ägyptens seine Geheimnisse zu entlocken als dir!”, schmollte ich.
Sie kraulte meinen Nacken auf diese ihr eigene Weise, dass es mir eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken jagte
„Du musst halt noch ein bisschen tiefer graben, Felix!”, gurrte sie.
„Warte ab, bis wir in Delphi sind!”, drohte ich ihr. Fordernd strich ihre Hand an meinem Körper herab nach unten und blieb auf meinem Schoß liegen, sodass ich Mühe hatte, mich auf die Straße zu konzentrieren.
„Nun ja, bei der einen oder anderen Säule wird es kein Problem werden, sie wieder aufzurichten!”, stellte sie zufrieden fest.
Unser erotisches Geplänkel wurde von den Steinen unterbrochen, die das Beben auf die Straße gerollt hatte. Ich war zuerst etwas abgelenkt gewesen und holperte über einen größeren Brocken, der heftig gegen den Unterboden unseres Wagens schlug. Wir waren uns schnell einig, dass es sinnvoller war, sich mehr auf die Straße zu konzentrieren. Steil ansteigend forderte sie tatsächlich meine gesamte Aufmerksamkeit.
Tief durchschnitt das Pleistos-Tal das Parnass-Massiv, die Felsenkulisse war mehr als beeindruckend. Die Straße schmiegte sich eng und kurvig an den schroffen Stein, dessen frisch aufgerissene Wunden überall sichtbar wurden. Weiß oder Rot-Braun leuchtete frisch abgebrochenes Gestein im Gegensatz zu den sonst grauen Felsen.
„Mir ist gar nicht wohl in meiner Haut, Melina”, kommentierte ich meine Eindrücke.
„Mir auch nicht, Felix. Wer weiß, was da alles beim Heiligtum runter gekommen ist!”
„Ich meine eigentlich unsere eigene Situation! Die Felsbrocken da über uns mag ich nicht auf unserem Dach haben!”
„Ach was! Die Polizei macht uns den Weg frei!” Auch eine Art, im dunklen Wald zu pfeifen ... Dass meine Befürchtungen nicht ganz unbegründet waren, bewiesen unzählige faust- bis kopfgroße Steine, denen wir ausweichen mussten. Dem Polizeifahrzeug vor uns ging es ähnlich, schlingernd suchten sie sich freie Bahn. Ich wäre zu gerne Gast bei der Diskussion gewesen, die da vorne gewiss ablief.
Irgendwann bogen wir um eine Kurve, als Melina mich aufgeregt am Arm zupfte.
„Felix, Felix! Da ist es! Wir sind in Delphi!” Offen gestanden war mein erster Eindruck alles andere als überwältigend. Alles, was ich sah, waren drei einzelne Säulen auf einer kleinen Ebene, die von einem ehemals runden Tempel übrig geblieben waren, überragt von Fragmenten des Architravs darüber. Melina gebot mir anzuhalten, ohne die Augen von dem Tempelchen zu nehmen. Fast wäre sie beim Aussteigen vor den Polizeiwagen gelaufen, der inzwischen gedreht hatte. Durch das geschlossene Fenster verabschiedeten sich die Polizisten mit süßsaurer Miene.
Melina beachtete sie nicht weiter, sondern betrat den schmalen Pfad, der uns auf die Ebene des Tempels führte. Ich zog den Schlüssel des Wagens ab und eilte ihr hinterher.
Die kräftigen Strahlen der Frühjahrs-Sonne hatten auch hier das Grün fast mannshoch sprießen lassen, darum sah ich Melina erst wieder, als ich selbst die Tempel-Ebene erreicht hatte. Sie stand vor den Resten des Tempels und strich über die marmornen Säulen. Soweit ich es beurteilen konnte, lag nichts herum, was erst jetzt umgefallen war. Weitere Steine auf dem Boden wirkten auf mich so, als seien sie sortiert abgelegt worden. Ich konnte die Grundrisse von vier größeren Gebäuden identifizieren, vielleicht waren es Tempel, in denen entweder die Götter oder auch die römischen Kaiser verehrt wurden.
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