Das erschien mir, angesichts der Tatsache, dass der Mörder offenbar tot war, ein wenig schwierig. Andererseits hatte ich das Gefühl, die Polizei hatte die Sache vielleicht doch etwas schneller abgeschlossen, als es angebracht gewesen wäre und die alte Dame schien das auch so zu sehen.
Ich nickte. Wenn ich dazu beitragen konnte, dass sie ihren Frieden fand, dann sollte es so sein. Obwohl… Dinge, die man über einen Ermordeten herausfand, konnten mitunter eher das Gegenteil bewirken. Aber dann blieb mir immer noch der Weg, zu lügen und ihr zu versichern, dass ihre Enkelin diesen Tod nicht verdient hatte. Mein Blick fiel auf das Tatortfoto. Nein, diesen Tod hatte niemand verdient, und ein 19jähriges Mädchen ganz sicher nicht.
„Es wäre hilfreich, wenn ich etwas mehr über Ihre Enkelin und ihre Freundin erfahren könnte“, meinte ich.
„Mein Anwalt wird sich darum kümmern“, erklärte Frau van Aark. „Wie sind Ihre Konditionen?“
Ich hatte eine ungefähre Vorstellung von der Größe ihres Vermögens und ich wusste, was die Anwälte hier verlangten, also nannte ich eine stattliche Summe „plus Spesen“ und die alte Dame nickte. „Herr Partner wird sich auch darum kümmern.“
Sie erhob sich und ich geleitete sie zur Tür.
„Finden Sie heraus, was dort passiert ist, bitte“, flüsterte sie, „diese Ungewissheit lässt mich nicht mehr schlafen.“
Sie ging langsam den Korridor entlang und Anwalt Partner trat zu mir in den Raum.
Ich nahm wieder Platz und sah mir noch einmal die Akte an.
„Die habe ich von der Polizei bekommen“, meinte Partner stolz.
„Eine Seite fehlt“, sagte ich. Dann klopfte ich auf den beiliegenden Datenstick. „Was ist das?“
„Der Anruf. Von der Frau, die den Mord gemeldet hat.“
„Hat die Polizei noch einmal mit ihr gesprochen?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Sie hat sie nicht aufgespürt.“
Wieder einmal ging eine meiner Brauen hoch.
„Nicht aufgespürt oder nicht nach ihr gesucht?“
„Das weiß ich, ehrlich gesagt, nicht.“ Partner zuckte die Schultern. „Vielleicht hielten sie es nicht mehr für nötig. Weil sie den Mörder bereits gefunden hatten.“
„Hm“, meinte ich nur. Ich war der letzte, der der Polizei schlampige Arbeit unterstellen wollte. Ich kannte ein paar Polizisten und sie waren gute und ehrenwerte Jungs. Und es half auch nichts, dass die Politiker Polizisten wie Dreck behandelten und ständig Stellen strichen. Hatte denen denn nie jemand erklärt, dass sein lockeres Leben als Politiker nur durch eine einzige Sache gerechtfertigt wurde: Dass es in Deutschland ruhig und sicher war? Wenn man in einem unsicheren Land leben wollte, dann konnte man auch nach Mexiko oder sonst wohin ziehen. Aber die Existenz eines Politikers, so sah ich das, wurde durch ein sicheres Land garantiert. War es das nicht mehr, dann brauchte man auch keine Politiker mehr – also sollten die verdammnochmal tunlichst dafür sorgen, dass dieser Zustand niemals aufhörte, wenn ihnen Job und Leben lieb war. Leider, leider dachten Politiker nie so weit. Stellen wurden gekürzt – und dann glaubte jeder dritte Trottel auch noch, er müsse irgendwo eine Pseudo-Nicht-Ausländerfeindliche Demo machen, wo dann wieder Polizisten gebraucht wurden, um zu verhindern, dass irgendeiner diesen Nazis einen aufs Maul haute – ebenfalls eine Verschwendung von Ressourcen, wenn Sie mich fragen!
Nichtsdestotrotz sah das hier irgendwie merkwürdig aus. War das eine Folge von Kürzungen und Überarbeitung? Pennerleiche gefunden, Fall erledigt? Natürlich konnte es sich so abgespielt haben. Was dann aber noch immer nicht erklärte, warum der Obdachlose zwei hübsche junge Dinger aufgeschlitzt hatte, als wäre das eine koschere Schlachtung. Hatten die sich in sein Territorium verirrt? Gab es eine Vorgeschichte? War er von anderen reichen Kids gequält worden und wollte sich nun an diesen beiden, die zufällig in sein Revier gekommen waren, rächen? Oder steckte etwas völlig anderes dahinter?
Es wurde Zeit, mehr über die beiden Mädchen zu erfahren.
Der Anwalt reichte mir nun eine zweite Akte über den Tisch. Sie war unwesentlich dicker als die der Polizei. Ich überflog die wenigen Seiten schnell. Es gab ein paar Informationen über die Mädchen und einige wenige über den Tatverdächtigen. „Darf ich die behalten?“ fragte ich, während ich noch las.
„Sie können alle Akten mitnehmen.“
„Danke.“ Ich sah auf. „Was können Sie mir sagen?“
„Es ist nicht viel.“
„Aber Sie haben Ermittlungen angestellt, wie ich sehe.“
„Nicht viele.“
Das hatte ich auch gesehen. Ein Profil in einem sozialen Netzwerk würde einem wahrscheinlich mehr über die Mädchen sagen, als das hier – und das war genau der Punkt, wo ich ansetzen würde, sobald ich in meinem „Büro“ war, also zu Hause. Aber wenigstens hatte er sich um den Polizeibericht zum Tod des Obdachlosen gekümmert. Das ersparte mir eine Menge Herumgelaufe und Herumgefrage und vor allem Herumgebettele bei Leuten, die mir Informationen geben sollten, auf die ich eigentlich kein Anrecht hatte.
„Haben Sie eine Vollmacht für mich?“
Ich hatte auf meiner Website stehen, dass es hilfreich war, besonders in Ermittlungen, bei denen es um ein Verbrechen ging, eine Vollmacht des Auftraggebers zu haben, die besagte, dass man offiziell und in seinem Namen ermittelte.
Er reichte sie mir über den Tisch.
„Sehr gut“, meinte ich, faltete sie zusammen und schob sie in meine Jackentasche. Ich deutete auf die zweite Akte. „Was können Sie mir sagen? Über den Täter?“
„Ein Obdachloser. Man hat seine Leiche in einem kleinen Waldstück gefunden.“
„Todesursache?“
„Möglicherweise natürlich.“
„ Möglicherweise ?“
Partner zuckte die Schulter. „Das ist es, was in dem Bericht steht. Der Mann war alkohol- und drogenabhängig, der Tod könnte eine Folge davon sein.“
„Ist eine Autopsie veranlasst worden?“
„Nein.“
Verdammte Sparmaßnahmen. Eigentlich gehörte es sich so, bei unbekannter Todesursache eine Autopsie zu veranlassen. Und die Leiche… war eingeäschert worden. Perfekt. Wäre ich weniger misstrauisch als ich war, ich glaube, ich hätte gedacht, die Sache würde zum Himmel stinken. Kamen wir zu meiner wichtigen Frage, zu der ich die Antwort bereits kannte, aber ich wollte sie von ihm hören: „Gab es Spuren bei ihm?“
„Spuren?“
„Blutspuren? DNA? Irgendwas, das ihn mit den beiden ermordeten Mädchen verbindet?“
Der Anwalt schüttelte den Kopf.
„Keine Spuren.“
Ja, das hatte ich beim Überfliegen des Berichts gesehen. Und es machte es umso nachvollziehbarer, dass die alte Dame einen externen Ermittler beauftragte, dieser Sache nachzugehen. Penner A wird verdächtigt, zwei Mädchen ermordet zu haben, und als die Leiche von Penner B gefunden wird, nimmt man an, es sei der gesuchte Täter und schließt die Akte? Nach dem, was ich in dem Bericht überflogen hatte, gab es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass Penner A und Penner B identisch waren.
„Hm“, machte ich und öffnete noch einmal die erste Akte. Nicht, dass die besonders umfangreich gewesen wäre, aber…
„Was?“
Es gab nur ein Bild vom Tatort, eins, das die beiden blutigen Leichen zeigte. Mehr gab es nicht. Und keinerlei Angaben über den Ort selbst, außer, dass er irgendwo am Rande der Stadt lag.
„Der Tatort. Was ist das für ein Ort? Was ist das für ein Haus? Wird es oft von Obdachlosen benutzt? Ist es ein Abrisshaus? Gibt es keine Schlösser? Was haben die Mädchen da gewollt?“
Ich sah in die unwissenden Augen des Anwalts.
„Dann werde ich mich da wohl mal umsehen müssen“, meinte ich und machte mir eine Notiz. Zum Glück stand die Adresse dabei. „Sagen Sie mir etwas über die Mädchen.“
Читать дальше