Martin Bischoff
Durch die Nacht
Für die Streetworkerinnen von St. Georg und ihren
unermüdlichen Einsatz für das leibliche Wohl.
Inhaltsverzeichnis
01. Kapitel
02. Kapitel
03. Kapitel
04. Kapitel
05. Kapitel
06. Kapitel
07. Kapitel
08. Kapitel
09. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
Songtitel
Impressum
Karte von St. Georg, Hamburg
EINS
I‘ am the passenger and I ride and I ride
I ride through the city’s backsides
IGGY POP
Was für ein Tag, dachte Joshua, als der Regionalexpress aus Richtung Bremen endlich in den verwaisten Hamburger Hauptbahnhof einrollte.
Dabei konnte er froh sein, überhaupt noch nach Hamburg gekommen zu sein. Seit vierzehn Tagen befand sich Deutschland fest im Griff des Polartiefs Dominique. Eisige Temperaturen und ununterbrochener Schneefall hatten Deutschland ins Verkehrschaos gestürzt.
Auf den Straßen kamen die Räumfahrzeuge nicht mehr durch und die meisten Flughäfen Mittel- und Nordeuropas hatten den Flugverkehr so gut wie eingestellt. Zwar hatte die Bahn auch massive Schwierigkeiten mit vereisten Oberleitungen und eingefrorenen Weichen, aber es ging Stück für Stück voran, wenn auch langsam. Daher hatte sich Joshua nach einem Geschäftstermin in Basel für die Bahn entschieden. Vor nunmehr vierzehn Stunden war er im Baseler Schneetreiben in einen Intercity Richtung Hamburg eingestiegen und inzwischen war er bereits des Öfteren in andere Züge umquartiert worden. Erneut unterbrochen wurde die Fahrt im Bremer Schneetreiben, wo die verbleibenden Reisenden in einen Regionalexpress gesteckt wurden. Und endlich ging es weiter ins Hamburger Schneetreiben.
Die Laune des sechsunddreißigjährigen Geschäftsführers eines Galvanisierungswerks wäre nach dieser Horrortour sicherlich im Keller gewesen, wenn die Geschäfte in der Schweiz nicht so erfolgreich gewesen wären.
Eigentlich ist das Leben doch schön, grinste Joshua vor sich hin. Er hatte einen Job, mit dem er weit mehr Geld verdiente, als er ausgeben konnte. Seine Figur war bei einer Größe von knapp einsneunzig immer noch sehr sportlich und sein braunes, kurzes Haar wies noch keine altersbedingten Lücken auf. Zwar hatte er im Moment keine feste Freundin, aber die Erfahrung lehrte, dass das keineswegs ein Grund für Torschlusspanik war.
Mit einem letzten quietschen kam der Zug um 01:03 Uhr am Bahnsteig zum Stillstand.
Auch auf Karls wulstigen Lippen zeichnete sich ein glückliches Grinsen ab: »Joshua, wir haben es geschafft.« Karl war seit Freiburg Joshuas – unfreiwillige – Reisebegleitung. Joshua schüttelte unmerklich den Kopf und lächelte in sich hinein, als er daran dachte, wie sie sich kennengelernt hatten. Joshua hatte es sich in einem Abteil bequem gemacht. Der Zug war nur dünn besetzt, was an einem 29. Dezember und bei dieser Witterung nicht wirklich überraschen konnte. In Freiburg wurde seine Abteiltür rumpelnd aufgerissen und vor ihm stand ein circa einssechzig kleiner Mann, der vermutlich deutlich über hundertzehn Kilo wog. Sein schweißnasser Kopf war von einem dünnen blonden Haarkranz umgeben, der unschön an seinen Schläfen klebte. Sein brauner Cordanzug war mehr als eine Nummer zu klein und bot einen eigenartigen Kontrast zu Joshuas Maßanzug. Der seltsame kleine Mann zerrte ein uraltes, überdimensionales Koffermonstrum hinter sich her.
»Karl Müller, Vertreter für Tapetenmuster«, rief er schnaubend und eine Spur zu laut in das Abteil. »Ist hier noch was frei?«
Joshua nickte, deutete mit der Hand auf die fünf freien Plätze und stellte sich seinerseits vor, auch wenn ihm die ganze Szene einigermaßen surreal vorkam. »Frankel, Joshua Frankel.« Karl streckte ihm ein schweißnasses Patschehändchen hin, welches Joshua nur widerwillig schüttelte.
»Fahren Sie auch mit diesem Zug?«
Diese scharfsinnige Frage überraschte Joshua, als er seine Hand gerade unauffällig an seiner Anzughose abwischen wollte.
»Äh, ja«, war Joshuas perplexe Antwort.
»Na, dann sind wir ja eine Fahrgemeinschaft«, lachte Karl und zerrte das Koffermonster in das Abteil.
Joshua bot sich an, das Ding auf die Ablage zu hieven, weil offensichtlich war, dass Karl da nicht dran kam.
»Danke Herr Frank, das war sehr nett.«
»Gerne, aber ich heiße Frankel.«
»Frankel Frank? Ich dachte Joshua?«
Joshua schüttelte resigniert den Kopf.
»Wissen Sie was, nennen Sie mich einfach Joshua.
« Karl riss die Augen auf: »Ich darf Sie duzen?«
»Klar doch, wenn wir schon eine Fahrgemeinschaft sind.«
»Karl«, er streckte ihm erneut die schweißnasse Hand entgegen. Wie kann man bei minus zehn Grad nur schwitzen, dachte Joshua, als er Karls Hand erneut schüttelte. Eigentlich hatte Joshua vorgehabt, auf der Fahrt den neuesten Förster zu lesen, so aber erfuhr er die Lebensgeschichte von Karl: Sein Vater war gestorben, als er zehn Jahre alt war und nun, mit zweiunddreißig, lebte er immer noch bei seiner Mutter, die nur eine kleine Rente bekam, sein Gehalt war auch mickrig, da Tapetenmuster out waren ...
Und so weiter und so weiter. In Karlsruhe kannte Joshua alle nicht erlebten Abenteuer aus der Schulzeit... in Mannheim die nicht erlebten Abenteuer aus der Zeit danach. In Frankfurt wurde den Reisenden dann mitgeteilt, dass der Zug ausgesetzt würde. Joshua stieg mit dem überaus nervösen Karl im Schlapptau in einen Intercity um, der über Köln in Richtung Hamburg fuhr.
In Dortmund stieg ein sehr distinguiert wirkender Mittfünfziger zu und nahm schräg gegenüber von Karl Platz. Der Mann war äußerst hager und trug sein graues Haar akkurat geschnitten. Sein schwarzer Anzug war penibel gebügelt und sah sehr teuer aus. Sein Gepäck, ein länglicher Samsonite-Koffer und eine kleine Reisetasche, verstaute er auf der anderen Kofferablage. Karls überschwängliche Begrüßung quittierte er lediglich mit einem knappen Nicken.
Joshua nickte ebenfalls kurz in Richtung des Neuankömmlings. Wenn der schon so maulfaul ist, muss ich ihn auch nicht volltexten, dachte Joshua. Man merkte schnell, dass Karls Mitteilungsbedürfnis dem Mann zunehmend auf die Nerven ging. Als Joshua Karl auf einen Kaffee ins Bordbistro einlud, warf ihm der Mann einen dankbaren Blick zu.
Karl konnte den Neuen nicht leiden. Der wär was für meinen Koffer, dachte Karl. Das würde ihm Benehmen beibringen ... Abwarten, mal sehen.
Der Lehrer, so wurde der zugestiegene Reisende in seiner Branche genannt, nutzte die Abwesenheit der beiden, um seinen Samsonite-Koffer zu öffnen. Jedoch nicht, bevor er die Vorhänge sorgfältig geschlossen hatte.
Direkt neben seiner halbautomatischen Glock mit Schalldämpfer lag eine DIN A4-Mappe mit allen Informationen zu seinem Auftrag.
Der Lehrer nahm die Mappe, verschloss den Koffer wieder und legte ihn zurück auf die Gepäckablage. Er wollte die Abwesenheit von Schweinchen Dick nutzen, um nochmals alle Details durchzugehen.
Die Ausgangssituation war für den Lehrer nicht neu. In Hamburg / St. Georg war ein Bandenkrieg ausgebrochen. Es ging um die Vorherrschaft im Drogenhandel und darum, wer auf dem Straßenstrich das Sagen hatte und abkassierte. Der Lehrer schaute kurz aus dem Fenster als der Intercity über eine Weiche rumpelte.
Wenn alles gut geht, bin ich in drei Stunden in Hamburg, ging es ihm durch den Kopf. Dann stieß er ein vornehmes Hüsteln aus und vertiefte sich wieder in seine Unterlagen.
Auf der einen Seite stand Don Georg, der alteingesessene Kiez-Pate. Über Jahrzehnte hatte er unangefochten das Geschäft beherrscht. Auch als in den letzten Jahren vermehrt Osteuropäer nach St. Georg kamen, hatte sein Einfluss nicht darunter gelitten, da sie jeweils einzeln und auf eigene Rechnung agierten.
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