Die Räume von Dr. Brimeu eine Etage höher. Sie besaßen kein Vorzimmer. Trotzdem hütete sich jeder normale Sterbliche des Betriebes davor, unaufgefordert hier zu erscheinen. Der Chef fasste das meistens als einen Angriff auf seine Privatsphäre auf und reagierte dementsprechend sauer.
Nur Chantal bildete eine Ausnahme. Sie hatte jederzeit Zutritt. Ein Vorrecht, von dem sie aber nur sehr selten Gebrauch machte.
Nun, wenn der Kaiser rief, dann hatten die Vasallen zu folgen. Chantal klopfte zweimal kurz an und trat ein.
„Madame Trémoille! Ich grüße Siel“ Brimeu schoss hinter seinem riesigen Schreibtisch aus Teakholz in die Höhe.
„Bonjour, Monsieur Brimeu. Bitte bleiben Sie doch sitzen“, wehrte sie höflich ab. Vergebens. Ihr Chef kam um den Schreibtisch herum und schüttelte ihr enthusiastisch die Hand.
„Aber nein, Madame Trémoille, warum nehmen wir nicht gemeinsam dort drüben Platz? Das ist bequemer, und wir können uns viel besser unterhalten.“
Er wies auf eine schwere Polstergarnitur, die in der hinteren linken Ecke seines weitläufigen Büros aufgestellt war. Chantal wusste, dass die Möbel ein Vermögen gekostet hatten. Das kleine Schlafzimmer, das durch eine Verbindungstür zu erreichen war, sollte sogar noch kostbarer eingerichtet sein, falls man den Gerüchten trauen konnte. Chantal hatte es noch nicht gesehen, und, ehrlich gesagt, sie konnte auch gut darauf verzichten.
Jedenfalls besaß Brimeu hier oben eine schmucke, kleine Wohnung für alle Fälle. Besonders wenn die Fälle Lavallade hießen und superkurze Minis trugen.
„Bitte.“
„Merci.“
Chantal machte es sich auf der breiten Couch bequem. So ganz wohl fühlte sie sich nicht in ihrer Haut, als ihr Chef unaufgefordert neben ihr Platz nahm.
Darüber hinaus trug die Flasche Champagner, die umwickelt mit einem Handtuch vor ihr auf der Tischplatte stand, nicht gerade zu ihrer Beruhigung bei. Unbekümmert nahm Brimeu die Flasche aus dem silbernen Kübel und goss die langstieligen Kristallgläser voll.
„Trinken wir auf Ihr Wohl, Madame Trémoille.“
Zögernd nahm Chantal ihr Glas. „Ich dachte, es handelt sich um eine wichtige Besprechung über geschäftliche Dinge. Wozu das alles?“
„Bitte, Madame Trémoille, das Leben besteht doch nicht nur aus Geschäften. Es gibt weiß Gott angenehmere Dinge. Ihre wiedergewonnene Freiheit zum Beispiel.“
Brimeu nahm einen Schluck aus seinem Glas. Aus purer Höflichkeit kostete Chantal ebenfalls. Der Champagner war erstklassig. Diese leichte, aufregende Prickeln auf der Zunge — gefährlich, gefährlich!
Erschrocken stellte Chantal plötzlich fest, dass sie ihr Glas in einem Zuge geleert hatte.
„Ich verstehe nicht ganz, was Sie meinen, Monsieur Brimeu.“
Chantal stellte ihr Glas auf den Tisch zurück. Ihr Chef füllte sofort nach.
„Womit, Madame Trémoille?“
„Sie sprachen von meiner wiedergewonnenen Freiheit, wenn ich mich recht erinnere.“
„Ach ja — Ihre Freiheit. Ich beneide Sie darum. Es muss ein wundervolles Gefühl sein.“ Brimeu lächelte wehmütig.
„Sie beneiden mich darum, dass mich mein Mann verlassen hat?“ erkundigte sich Chantal spöttisch.
„Aber nein, ich... äh...“
„Ich glaube, Sie haben eine völlig falsche Vorstellung von meiner Situation“, unterbrach sie ihn kühl. „Ich fühle mich keineswegs wundervoll.“
„Natürlich. Eine Scheidung ist niemals angenehm.“ Brimeu rückte näher und legte seine Hand auf ihren Arm. „Aber schauen Sie, bietet Ihnen die Trennung von Ihrem Mann nicht die Chance zu einem neuen Anfang?“
„Kaum.“ Chantal schüttelte energisch mit dem Kopf. „Ich sehe zwar keinen Grund, warum ich mit Ihnen über meine Gefühle plaudern sollte, aber eines kann ich Ihnen versichern: Ich liebe meinen Mann noch immer. Es gibt keinen neuen Anfang für mich, ohne ihn.“
„Ich verstehe. Sie rechnen damit, dass Ihr Mann irgendwann zu Ihnen zurückkehrt?“
„Vielleicht?!“
„Warum diese Quälerei? Wollen Sie etwa mit Gewalt unglücklich sein, Chantal? Sie sind sehr schön, wissen Sie das denn nicht? — Es wäre ein Verbrechen, sich vor der Wirklichkeit zu verschließen. Genießen Sie Ihr Leben, Chantal!“
Brimeus Stimme wurde weich, beinahe zärtlich. Gleichzeitig strich er wie zufällig mit den Fingerspitzen über Chantals linke Brust. Chantal wusste, dass sie das nicht gestatten durfte. Tat sie es doch, würden zweifellos weitere Intimitäten folgen. Und danach stand ihr weiß Gott nicht der Sinn.
„Ich weiß Ihr Mitgefühl zu schätzen, Monsieur Brimeu“, sagte sie spröde. „Doch das geht zu weit.“
Sie schob seine Hand fort. Zu ihrer Überraschung nahm Brimeu die erlittene Abfuhr gelassen hin. Wahrscheinlich hatte er nach allem Bisherigen kaum damit gerechnet, dass er bei Chantal ausgerechnet heute zum Zuge kam.
„Sie missverstehen mich, Madame Trémoille“, erklärte er kühl. „Ich wollte Ihnen lediglich meine Zuneigung beweisen.“
Sein Verzicht, Chantal weiterhin bei ihrem Vornamen zu nennen, deutete an, dass in puncto Annäherung wohl kaum mit einem weiteren Versuch seinerseits zu rechnen war. Trotzdem kam Chantal nicht umhin, ihren Spott zu zeigen.
„Ach wirklich?“, fragte sie, „Und ich dachte schon, Sie hielten mich für eines dieser naiven Häschen, die nach ein paar billigen Komplimenten nur zu bereitwillig umfallen.“
„Mein Kompliment, Sie haben eine scharfe Zunge, Madame Trémoille.“ Brimeu lächelte voller Ironie. „Hoffentlich geraten Sie nicht einmal in ernsthafte Schwierigkeiten dadurch.“
Irritiert durch seine unerklärliche Selbstsicherheit schenkte sich Chantal selbst noch etwas Champagner nach.
Brimeu redete unterdessen weiter. „Hier wird sich nämlich einiges ändern, denke ich. Man munkelt, die Amerikaner hätten ihre eigenen Methoden, um einen Betrieb so wirtschaftlich wie möglich zu führen.“
„Amerikaner?“ Chantal blickte ihn über den Rand ihres Glases ungläubig an.
„Ich werde verkaufen, Madame Trémoille.“
Für Chantal war diese Antwort wie ein Schlag ins Gesicht. Ohne einen Tropfen getrunken zu haben, stellte sie ihr Glas mit einem heftigen Ruck zurück auf die Tischplatte.
„Das ist doch unmöglich?! Das glaube ich einfach nicht!“
„Das werden Sie müssen“, grinste Brimeu hämisch, „Ich habe bereits ein konkretes Angebot.“
Er griff nach dem silbernen Zigarettenetui. „Fünf Millionen Euro, Madame Trémoille!“
„Mein Gott“, stammelte Chantal.
„Natürlich ist die Firma ein wenig mehr wert“, philosophierte er, „aber ich bin von Natur aus ein bescheidener Mensch.“
Chantal wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. So grotesk erschien ihr die Situation.
„Aber warum?“ fragte sie fassungslos. „Ich meine, Ihr Entschluss kommt so überraschend, so unerwartet. Der Betrieb läuft doch ausgezeichnet!“
„Sie wollen den Grund wissen? — Ganz einfach, ich will den Rest meines Lebens in Ruhe genießen. Vor allem will ich heraus aus der Stadt. An die Côte d’Azur, nach Cannes oder Nizza. Es gibt genug Orte auf der Welt, wo man gut leben kann.“ Brimeu nickte zu seinen eigenen Worten.
„Und was wird aus mir?“, erkundigte sich Chantal, die einigermaßen ihre Fassung zurückgewonnen hatte.
„Sie werden sich wohl arrangieren müssen“, sagte er kalt. „Das gilt natürlich auch für die anderen Betriebsangehörigen. Zwangsläufig wird es auch zu Entlassungen kommen. Wie ich bereits sagte, die Amerikaner haben vielleicht andere Vorstellungen.“
Chantal dachte nach, und sie kam zu keinem guten Ergebnis. Mit dem Verkauf der Firma wurde ihr Anstellungsvertrag hinfällig. Sie zweifelte nicht daran, dass sie von den amerikanischen Käufern einen neuen Vertrag erhalten würde. Dazu war sie zu sehr von ihren Fähigkeiten überzeugt. Aber man würde ihr die Geschäftsführung nehmen, dessen war sie sich absolut sicher. Und damit waren all ihre Arbeit, ihr Fleiß und ihre Zähigkeit umsonst gewesen. Ihre Ehe mit Louis, gescheitert für nichts!
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