Sehr viel später — es war bereits Abend, und sie saß bei einem Glas Rotwein in ihrem Wohnzimmer —dachte Chantal über das aufwühlende Erlebnis am Vormittag gründlich nach. Ihr war ziemlich unbehaglich zumute. Nicht, dass sie ihr Verhalten bereute. Im Gegenteil, es hatte völlig neue Empfindungen in ihr geweckt und sie gleichzeitig neugierig gemacht. Neugierig auf — andere Männer. Und diese schockierende Erkenntnis beunruhigte sie. Schließlich liebte sie Louis noch immer. Ab-gesehen von ihren eigenen Vorbehalten — durfte sie ihn so einfach betrügen?
Sie dachte an die langstielige, rote Rose, die sie beim Heimkommen vor ihrer Wohnungstür entdeckt hatte. Nur Louis konnte sie dahin gelegt haben. Trotzdem — eigentlich passten ja solche Heimlichkeiten nicht zu ihm. Und Rosen mochte er schon gar nicht. Er verabscheute diese Art von Blumen sogar.
Warum sollte er plötzlich über seinen eigenen Schatten gesprungen sein?
War das vielleicht ein Friedensangebot? Unmöglich! So schnell ändert sich kein Mensch.
Aber wenn die Blume nun wirklich nicht von ihm war, wer...?
Plötzlich schepperte ihr Handy und zeigte den Eingang einer SMS an. Chantal nahm das Smartphone zur Hand und las:
» Ich komme morgen um 9:00 Uhr am Flughafen Paris-Charles-de-Gaulle an. Bitte hole mich an. Zoé «
Chantal ließ das Handy sinken. Zoé? Mit ihr hätte sie am wenigsten gerechnet. Was wollte Zoé in Paris? Nachdenklich ging Chantal ins Wohnzimmer zurück.
„Sei froh, dass du ihn los bist! Louis hat nie etwas getaugt. Ich muss es ja schließlich wissen.“
Die hellblonde Frau, die neben Chantal an dem runden Tisch des kleinen Straßencafés saß, unterstrich ihre Worte mit einer herrisch wirkenden Handbewegung.
Chantal antwortete nicht gleich, sondern starrte in die bereits wieder verdunstenden Wasserpfützen, die das leichte Morgengewitter hier und da auf den Steinplatten des Bürgersteiges hinterlassen hatte. Sie fand keinen Trost in Zoés sicherlich ernstgemeinter Behauptung. Beinahe wünschte sie sich, sie hätte die Scheidung mit keinem Wort erwähnt.
Schließlich war es Zoé gewesen, die schon damals — kurz vor der Hochzeit — eindringlich vor einer Heirat mit Louis gewarnt hatte. Ein Tyrann war er in ihren Augen und ein egoistischer Spießer, der nur an seinen eigenen Vorteil dachte.
„Und glaube nicht, dass mein sauberer Herr Bruder dir auch nur eine Träne nachweint, Chantal. Bestimmt hat er längst ein naives Dummchen gefunden, das seine Gelüste befriedigt und den Haushalt in Ordnung hält. So was versteht er glänzend.“
„Warum sagst du das, Zoé? Louis ist und bleibt dein Bruder“, warf Chantal betroffen ein.
Zoé nippte an ihrem Espresso, bevor sie antwortete. „Mag sein, doch auf so einen Bruder kann ich gut verzichten. Du weißt, dass wir uns noch nie leiden konnten. Und das hat gar nichts mit dir zu tun, Chantal.“
Das stimmte. Chantal wusste, dass das denkbar schlechte Verhältnis zwischen den beiden Geschwistern schon bestand, bevor sie Louis kennengelernt hatte. Deshalb nickte sie.
„Was hast du eigentlich gegen ihn, Zoé? Manchmal hat er doch auch seine guten Seiten.“
„Ja — manchmal!“ Zoé legte eine besondere Betonung auf dieses Manchmal. „Meistens ist er jedoch unausstehlich. Er besitzt eine besondere Neigung dazu, andere Menschen auszunutzen oder ihnen seinen Willen aufzuzwingen. Das habe ich als Kind oft genug erfahren müssen. Und eigentlich ist das auch der Grund dafür, warum ich lieber in New York lebe. Ich wollte einfach weg aus seinem Einflussbereich. Sehr weit weg.“
„Ach ja, Amerika!“ Chantal stieß einen Seufzer aus. „Aber ob das für mich die Lösung ist? Wovon sollte ich dort drüben leben?“
„Von deinen Talenten.“ Zoé lächelte.
„Talente? Du hast gut reden. Ja, wenn ich so schreiben könnte wie du.“
„Hast du schon einen meiner Romane gelesen?“
„Ja, den von dem alternden Rennfahrer, der später ein junges Mädchen...“ Chantal errötete leicht.
„... erst vernascht und dann geheiratet hat“, führte Zoé den Satz für sie zu Ende. „Warum sprichst du es nicht ruhig aus?“
„Weil, weil...“ Chantal zögerte mit ihrer Antwort und fuhr dann fort: „Solche Dinge liegen mir einfach nicht. Ich rede nicht gern darüber.“
„Tust du wenigstens solche Dinge?“
„Aber nein!“ Empört wies Chantal die taktlose Frage ihrer Schwägerin zurück.
„Schade. Ich habe nämlich nicht vor, hier zu versauern. Im Gegenteil, ich möchte mich später an einige herrlich sündige Nächte in Paris erinnern können, die ich hier verbracht habe.“
Chantal kannte Zoés starkes Bedürfnis nach Erotik. Soviel sie von Louis gehört hatte, gab es kein Tabu, das ihre Schwägerin noch nicht gebrochen hatte. Aber das war bestimmt wieder einer seiner typischen Übertreibungen gewesen. Mit Sicherheit gab es gewisse Grenzen, die eine Frau nie überschreiten würde. Auch Zoé nicht, davon war sie überzeugt.
„Bist du nur deshalb nach Paris gekommen?“
„Warum sonst? Nein — im Ernst, ich hatte auch ein wenig Sehnsucht nach der Stadt. Immerhin bin ich vor fünf Jahren das letzte Mal hier gewesen. Hat sich viel verändert?“
„Nein. Alles beim alten.“ Chantal sah auf die Uhr. „Zoé, sei mir nicht böse, aber ich muss jetzt in die Firma. Man verlangt nach mir.“
„Viel Freiheit scheinst du ja nicht zu genießen, auch wenn du Geschäftsführerin von dem Laden bist.“ Zoé verzog ihr Gesicht.
Chantal lachte. „Vergiss bitte nicht, dass der Laden Brimeu gehört. Und wenn der große Boss mich unbedingt sehen will, dann habe ich zu erscheinen. Allerdings wundert es mich, dass er die Besprechung so kurzfristig anberaumte. Das ist eigentlich nicht seine Art.“
„Weiß er, dass du geschieden bist?“
„Natürlich. Der weiß alles. Worauf willst du hinaus, Zoé?“ Chantal sah ihre Schwägerin erwartungsvoll an.
„Na, vielleicht hat er eindeutige Absichten.“
„Die hat er bestimmt. Aber ich werde schon dafür sorgen, dass es nur bei den Absichten bleibt, keine Angst.“
„Das glaube ich dir sogar.“ Zoé lächelte wissend und rief den Kellner herbei.
Zwanzig Minuten später bremste Chantal ihren Wagen vor der Firma Brimeu Automobile ab.
„Also Zoé, es bleibt dabei. Du fährst in meine Wohnung und richtest dich dort häuslich ein.“
„Soll ich nicht doch lieber ein Hotelzimmer...?“
„Kommt nicht in Frage. Du wohnst bei mir. Und warte nicht auf mich, falls die Besprechung länger dauern sollte. Geh aus und mache dir einen schönen Tag.“
„Süße, jetzt redest du wie ein altbackener Ehemann in Amerika“, scherzte Zoé. „Aber weil du so großzügig zu mir bist, will ich dir noch einmal verzeihen!“
„Das freut mich“, gab Chantal trocken zurück. „Wir sehen uns später.“
Sie ließ den Autoschlüssel stecken und stieg aus. Zoé rutschte auf den Fahrersitz hinüber, hupte noch einmal kurz und fuhr dann mit einem Bravourstart davon.
Chantal ging erst einmal in ihr Büro. Obwohl sie bereits ziemlich spät dran war, beeilte sie sich nicht besonders. Sie war doch nicht irgendein Laufbursche.
Wie üblich war ihr Vorzimmer leer. Ob die Lavallade wieder in der Lagerhalle war? Chantal verdrängte die aufkommenden Erinnerungen und warf einen Blick in den Spiegel. Haar und Make-up waren in Ordnung. Auch das geblümte Sommerkleid aus Baumwolle saß tadellos, der Ausschnitt war klein und züchtig. Probehalber öffnete Chantal einen weiteren Knopf. Wenn man genau hinsah, konnte man nun den Ansatz ihrer Brüste sehen. Ihr gefiel diese Offenherzigkeit und sie beließ es dabei.
Seit gestern hatte sich eben einiges geändert. Mit sich und der Welt zufrieden, trat Chantal schließlich den Weg in das Chefbüro an.
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