Er fixierte die Liste mit einem weiteren Magneten an dem gleichen Whiteboard.
Mit einem langgezogenen „Gut“ fuhr Voss fort, und legte nach:
„Der Bauleiter Marquart und der Polier Quast, hatten auch nichts gesehen oder gehört. Bis wir den Bericht bekommen, können wir also nur ein wenig im Umfeld recherchieren. Ich fahre zu dieser Baufirma, FlaKo-Bau, und du könntest mal checken, ob so eine Baustelle Video-überwacht ist. Schließlich stehen da teure Maschinen herum.“
Voss nahm seine Jacke vom Stuhl und verließ als Erster das Büro. Schließlich wollte er ja noch kurz bei Caro auf eine Tasse Kaffee reinschauen. Brandtner suchte die Telefonnummer des Klinikums heraus, um seinen Besuch anzukündigen.
Mittlerweile war es schon viertel nach zwölf. Voss konnte aber auf Anhieb keinen Parkplatz in der Nähe des Buchladens finden. Er fuhr auf der Parkplatzsuche dreimal erfolglos um das Rathaus, musste dabei an das Lied Mambo von Herbert Grönemeier denken, und fand dann schließlich in einer Seitenstraße fast schon außerhalb des Altstadtkerns einen Parkplatz.
Die Eingangstür stand offen und Leute gingen ein und aus. Darunter auch Bademantelträger, Humpelnde und Rollstuhlfahrer. Er hasste dieses Umfeld, schon die Gerüche trieben ihm den Schweiß auf die Stirn. Auf der großen Tafel im Eingangsbereich suchten seine sehhilfenverstärkten Augen nach dem Ort der Verwaltung, den er nach einiger Zeit in Zimmer 5.28 (im fünften Stock) beschrieben fand. Er machte sich auf den Weg zu den Fahrstühlen, fuhr in die fünfte Etage, klopfte an die Tür Nummer achtundzwanzig und ging hinein. Hinter einem großzügigen Tresen stand eine freundliche junge Frau, deren Namensschild an der Bluse sie als Roswita Herzog auswies. Brandtner erklärte sein Anliegen und wurde an den Facility Manager Klaus Kreuzer in Raum fünfzehn verwiesen. Bevor Brandtner seine Augen von der netten Erscheinung hinter dem Tresen lassen musste, kündigte diese den Besuch telefonisch an. Brandtner verabschiedete sich höflich und schlurfte einige Türen weiter, klopfte an die Tür und trat ein.
Kreuzer ging bereitwillig auf alle Fragen ein, stellte zunächst das Erweiterungsprojekt vor und gab Auskunft über die Projektbeteiligten. Die Gretchenfrage nach der Videoüberwachung der Baustelle konnte er hingegen nur bedingt beantworten. Es gab eine Webcam, die alle fünf Minuten ein Bild auf die Internetseiten des Klinikums stellte. In wie weit der Generalunternehmer FlaKo Bau noch eigene Kameras zur Objektüberwachung einsetzte, wusste er leider nicht. Voss bat ihn, die Bilder zu kopieren und der Mordkommission zur Verfügung zu stellen. Kreuzer versprach dies im Laufe des Nachmittags zu erledigen.
Jürgen Voss betrat den Laden und ging schnurstracks auf Caro zu, die gerade fünf Bücher der Neuauflage des Buches „Gräme dich nicht – Die zehn Grundregeln für ein zufriedenes Leben“ ins Regal einsortierte. Er gab ihr einen Kuss auf den Mund und beide verschwanden dann im hinteren Büroraum. Katharina, die dort gerade einen Lieferschein prüfte, begrüßte Jürgen mit einer kurzen Umarmung, nahm sogleich vier Tassen aus dem Schrank und ging zum Kaffeeautomaten.
Jürgen und Caro saßen schon an dem runden Tisch während Frau Westphal noch mit der Bedienung eines älteren Ehepaares im Verkaufsraum beschäftigt war.
„Na, erzähl', was ist passiert?“, fragte Caro mit fast glänzenden Augen.
„Sei nicht so neugierig, du weißt doch, dass es sich um ein laufendes Verfahren handelt, da kann ich...“
„Aber vielleicht kannst du uns nur ein bisschen was erzählen“, setzte Katharina sofort nach und schob Jürgen einen Becher Kaffee hin.
Jürgen trank zunächst einen Schluck Kaffee, räusperte sich und gab dann schließlich nach.
„Na gut. Wir haben einen toten Frauenkörper in einem Schacht auf der Baustelle beim Stadtklinikum gefunden. Es gibt aber noch keine weiteren Details, wir wissen noch nicht einmal, wer die Frau ist. Wahrscheinlich ein Unfall. Äh, habt ihr auch Milch?“
Um den Redefluss nicht versiegen zu lassen, sprang Katharina sofort auf, holte die Milchtüte aus dem Kühlschrank und gab einen Schubser in Jürgens Tasse. Ein kleiner Spritzer Milch ditschte über die üppige Crema und verließ das koffeinhaltige Subsystem um auf Jürgens Handrücken zu landen. Jürgen zog die Hand weg und streifte den Tropfen auf der Unterlippe ab bevor er weitersprach.
„Wir müssen erst die Bergung und dann die Obduktion abwarten.“
Im nächsten Moment drängte die Melodie Spiel mir das Lied vom Tod aus Jürgens Jackentasche. Katharina fand das zwar einerseits witzig für einen „Kriminalen“, aber andererseits auch unpassend. Sie kommentierte dies aber nicht weiter, sondern stützte sich mit beiden Ellenbogen auf den Tisch auf, nahm den Kaffeebecher mit beiden Händen und führte ihn zum Mund.
Jürgen nahm das Handy aus der Jacke und das Gespräch an.
„Voss. Ach, du bist es Michael. Ja, ja, ok. Wir sehen uns dann im Büro. Tschüß.“
„Ja, und weiter?“, fragte Caro, „Was wisst ihr sonst?“.
„Noch nicht viel. Michael war nochmal auf der Baustelle, um sich nach einer Videoaufzeichnung zu erkundigen. Aber die Klinik hat wohl nur eine Webcam, die alle fünf Minuten ein Bild liefert. Und Michael hat herausgefunden, dass die Kamera nicht direkt auf den Unfallort ausgerichtet ist.“
„Und was machst du jetzt?“, fragte Katharina ein wenig aufgeregt.
„Ich besuche jetzt gleich die Baufirma, vielleicht handelt es sich um eine Mitarbeiterin. Und am Nachmittag bekommen wir schon die ersten Ergebnisse der KTU geliefert. Aber ihr haltet euch bitte aus der Sache raus. Ich möchte nicht wieder so ein Durcheinander haben, wie damals beim Überfall des älteren Ehepaares“.
„Neeiinn, bestimmt nicht“, antworteten Katharina und Caro unisono, lächelten nach innen und schlürften ihren Kaffee.
Jürgen Voss trank den restlichen Kaffee mit einem großen Schluck, verabschiedete sich bei den Frauen und verließ eilig den Laden. Wieder im Auto sitzend nahm er sein Handy und die Visitenkarte vom Bauleiter Marquardt aus der Tasche und wählte die Nummer der Zentrale, um seinen Besuch bei FlaKo anzumelden.
Die FlaKo-Bau GmbH war vor zwei Jahren in das neue Industriegebiet Süd, südlich des Flugplatzes, umgezogen. Hier waren die Grundstücke damals noch günstig zu haben und die Firma benötigte auf Grund der Expansion deutlich mehr Platz für Mitarbeiter und Ausrüstung. Zweihundert Mitarbeiter arbeiteten ständig in der Industriestraße, hauptsächlich Geschäftsführung, Planer, Bauingenieure und Controller.
Voss fuhr in östlicher Richtung aus der Stadt, am Kreisel vor dem Klinikum dann in südliche Richtung weiter, bevor er vor dem Waldgebiet nach links in die Industriestraße einbog.
Ein mondänes Gebäude aus Glas und Stahl baute sich vor ihm auf. Er nahm den ersten Gästeparkplatz in der Nähe des Eingangs, ging zum Empfang und trug einer gut aussehenden Endzwanzigerin sein Anliegen vor. Er wurde zu einer gemütlichen Sitzgruppe gebeten und wartete dort auf seinen Gesprächspartner. Die Wartezeit nutzte Voss, um die auf dem Tisch liegende Firmenbroschüre zu studieren.
Die FlaKo-Bau GmbH war demnach Ende der Vierziger Jahre von Werner Flachner gegründet worden. 1984 hatte Henry Flachner, der Sohn des Gründers, den Geschäftsführerposten übernommen, da sein Vater sich zur Ruhe setzen wollte. Georg Kochnowski kaufte sich Ende der achtziger Jahre als technischer Geschäftsführer in die Firma ein. Fortan hieß die Firma nicht mehr „Flachner Bau“, sondern „FlaKo Bau“. Durch Aufträge wie das Städtische Klinikum in Biberlingen und die Sportanlage in Ratzingen war FlaKo auf starkem Expansionskurs. Neben dem Hauptsitz in Biberlingen gab es mittlerweile Niederlassungen in verschiedenen deutschen Städten, typischerweise Kleinstädte, sowie neuerdings in Slowenien.
Читать дальше