Katharina setze sich auf ihr Fahrrad und fuhr durch das Wohngebiet, welches südwestlich des Flusslaufes lag, vorbei an der kleinen Abzweigung, die ihr den kürzesten Weg in die Altstadt beschert hätte. An diesem schönen Sommertag nahm sie den Umweg durch die Flusswiesen gern in Kauf. Die gesamte Strecke dauerte selten länger als zwanzig, fünfundzwanzig Minuten. Sie überquerte die Beaverau schließlich an der Habermann-Brücke und radelte vom Nord-Westen kommend in Richtung Altstadt. Nach weiteren zehn Minuten kam sie in der Fußgängerzone an, in der Caroline Staben ihren Bücherladen in einem liebevoll renovierten Fachwerkhaus hatte.
In großen bunten Lettern stand über dem Eingang "BuchStaben" geschrieben. Das Wortspiel war sicherlich der Grund dafür, dass Caro ihren „Kriminalen“ Jürgen Voss immer noch nicht geheiratet hatte, dachte sich Katharina jedes Mal schmunzelnd, während sie ihr Fahrrad vor dem Eingang abstellte und an den davorstehenden Fahrradständer anschloss.
Das "Palim palim" der Glocke über der Eingangstür – Katharina nahm nie den Hintereingang - erinnerte ein wenig an den Sketch von Didi Hallerforden. Doch drinnen erwartete die Kunden ein gemütliches Ambiente zum Stöbern und Probelesen. Alle Genres waren vertreten, die Bücher standen in geschmackvollen, alten Regalen mit Lisenen, die den Büchern Glanz und Würde verliehen. Um alle Kundenkreise zu bedienen, konnte man sowohl Schulbücher als auch Materialien für den Unterricht erwerben. Den sonst üblichen Kleinkram, den größere Ketten neben den Büchern – oder mittlerweile eher hauptsächlich - anboten, gab es bei Caro aus Überzeugung nicht. Außerdem wäre hierfür eine viel größere Verkaufsfläche nötig gewesen. Hier galten also noch das Buch, der Satz, die „BuchStaben“. Und das wussten viele Kunden zu schätzen.
Katharina kam mit einem fröhlichen „Guten Morgen“ gegen zehn Uhr in den Laden, der wie immer seit neun Uhr geöffnet war. Caro schob gerade die Schublade der Kasse zu und übergab einer Kundin den Kassenbon und ein in buntes Papier eingepacktes Buch. Neben Caro gab es noch Frau Westphal, eine gelernte Bibliothekarin, die ganztags im Laden arbeitete.
An den Tagen, an denen Katharina aushalf, ging es primär um das Abdecken der Spitzen um die Mittagszeit. Diese wurde von vielen Biberlingern, die in der Stadt beschäftigt waren, zum Stöbern gerne genutzt. Neben dem erhöhten Verkaufsaufkommen ging es aber auch um die Bewachung der Ware, die in letzter Zeit zunehmend ohne Kassenbon durch die Eingangstür diffundierte.
Für Katharina war die Arbeit in dem Laden eine gute Gelegenheit, um nach der Kinderpause wieder ein wenig im Berufsleben Tritt zu fassen. Sie war eigentlich gelernte Apothekenhelferin. Im BuchStaben arbeitete sie offiziell zehn Stunden pro Woche, meistens unentgeltlich länger, wofür sie mit vierhundert Euro pro Monat entlohnt wurde. Nach den Sommerferien wollte sie eventuell etwas mehr arbeiten.
Lesen war ohnehin eines ihrer Steckenpferde und so konnte sie neben den ungeliebten Tätigkeiten wie Waren auspacken, Bücher einsortieren und Prospekte für Stammkunden versenden, die Kunden mittlerweile auch kompetent beraten. Ihre Leidenschaft gehörte den Kriminalromanen „mit Thrill“, wie sie immer sagte. Diese Leidenschaft teilte sie mit Caro, die schon im Jugendalter alle Miss Marple- und Hercules Poirot-Bücher gelesen hatte.
Katharina war früh dran, da eine größere Lieferung anstand und zuhause ohnehin nichts anderes anlag.
Die letzte Woche vor den Ferien war in der Regel immer eine lockere Sache. Die Noten standen schon fest, die Konferenzen waren abgehalten. Eigentlich wusste keiner so genau, warum man überhaupt noch in die Schule gehen sollte. G8 wäre wohl schon vermeidbar gewesen, wenn einfach die reguläre Anzahl der Schulstunden genutzt und die Ausfallstunden reduziert worden wären.
Svenja, die neben ihrer Freundin Lena Neuberger saß, war eigentlich mit ihren Noten zufrieden. Nur die Drei in Geschichte nahm sie der Laumeier-Pitzke übel, hier schätzte sie sich deutlich besser ein. Französisch hatte sie ebenfalls mit einer Drei etwas verkackt, da ihre Zeit zum Vokabelnlernen im engen G8-Kostüm und im Rahmen ihrer Work-Life-Balance einfach zu knapp bemessen war. Also systembedingt unschuldig. Insgesamt war sie mit ihrem Notendurchschnitt von Einskommaneun, der bei diesem Zeugnis herauskommen müsste, sehr zufrieden, zumal sie das naturwissenschaftliche Profil gewählt hatte.
Lenas Zeugnis war nicht ganz so gut wie Svenjas, sie hatte sich jedoch gegenüber dem Halbjahreszeugnis wieder einmal steigern können. Somit waren beide sehr zufrieden mit ihrem erwarteten Ergebnis und freuten sich auf die Ferienzeit. Noch vier Tage und der Rest vom Montag, und dann: Rien ne va plus, bonnes vacances!
Nach der Schule fuhren beide, wie am Vortag verabredet, mit dem Fahrrad zu Lena. Sie wohnte in dem Neubaugebiet im Nordosten der Stadt, in einem kleinen Endreihenhaus am Ende einer Sackgasse. Die Lage am Rande des Kollisgebirges war idyllisch, die Luft sauber und die Umgebung ruhig.
Als die beiden ihre Fahrräder in den Vorgarten schoben, kam ihnen schon Bolo, der Berner Sennenhund entgegen. Die Mutter begrüßte die beiden und gab ihnen bis zum Tortellini-essen noch zehn Minuten Zeit.
„Lena, denk daran, dass du heute um halb sechs noch zum Durchchecken gehen musst. Papi wird mit dir hinfahren“, rief die Mutter den beiden auf dem Weg in Lenas Zimmer im Dachgeschoss hinterher.
„Ich weiß...“, antwortete Lena wie immer leicht genervt, wenn es um Arzttermine ging, da sie in der Vergangenheit schon so viele davon hatte.
Gelangweilt wippte Lena mit den Beinen auf dem Stuhl hin und her. Ihr Blick wanderte dabei langsam vom Tisch vor ihr, mit den darauf kreuz und quer verteilten Kinderbüchern, an dem kleinen Regal neben dem Fenster hoch, bis zur gegenüberliegenden Wand, an der unzählige Kinderbilder den leichten Grauschleier und die vielen Abdrücke von Kinderhänden auf der hellgelben Wandfarbe zu übertünchen versuchten. Viele neue Bilder waren im vergangenen Monat nicht hinzugekommen, die genaue Position der meisten dieser kleinen Kunstwerke hatte Lena auf Grund ihrer bisherigen Besuche bereits im Kopf.
Außer Lena und ihrem Vater, der neben ihr saß und eine Automobilzeitschrift las, war noch eine junge Mutter mit ihrem schreienden Baby im Wartezimmer, was die Wartezeit für Lena nicht gerade angenehmer gestaltete. Und wodurch sich die Frequenz der wippenden Beine nur noch erhöhte. Einige Minuten später kam die rettende Erlösung, als die Arzthelferin ihren Kopf durch die geöffnete Wartezimmertür steckte und mit freundlichem Gesichtsausdruck „Lena Neuberger, bitte!“ rief. Lena und ihr Vater standen sofort auf und, während die Zeitschrift noch scheinbar wie in Zeitlupe auf den Tisch schwebte, waren die beiden bereits im Flur, auf dem Weg in das Behandlungszimmer von Dr. Schulte.
Wie immer reichte Dr. Schulte dem begleitenden Elternteil zuerst die Hand, während er sich dabei zügig mit den Worten „Na, wie geht's denn heute?“ zu Lena wandte. Lena machten Arztbesuche hingegen meist ein wenig nervös und so fokussierte sie ihren Blick auf den kleinen goldenen Bären der auf dem Schreibtisch des Arztes stand und antwortete wie immer mit einem zarghaft-langgezogenen „Gut“.
Lena ging es merklich besser, seit die Familie sich entschlossen hatte, den Wohnort fernab einer Nachtflugzone eines Großflughafens in das idyllische Biberlingen zu verlegen. Die Nervosität und die Konzentrationsschwäche in der Schule und bei den Schularbeiten verringerten sich bereits merklich, wusste der Vater dem Arzt zu berichten. Dr. Schulte begrüßte den Fortschritt und erklärte, dass Fluglärm bedingte Gesundheitsrisiken unter Anderem durch die 2008 im Umfeld europäischer Flughäfen durchgeführte HYENA-Studie bestätigt wurden. Und während er über Lärmpegel und signifikante Erhöhungen morgendlicher Stresshormone referierte, führte er bei Lena eine Blutdruckmessung durch. Alles bestens. Die Herz-Kreislauf-beruhigende Medikation, die noch zu Beginn der Behandlung nötig war, wurde nun schon seit mehreren Monaten nicht mehr benötigt. Nächster Termin in vier Wochen.
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