Jürgen Voss war Kriminalhauptkommissar in der Abteilung für Delikte am Menschen. Gut aussehend, sportlich und immer für einen Scherz zu haben, begeisterter Motorradfahrer und Linksaußen in der Herrenmannschaft der örtlichen Polizei.
Gegen neun Uhr fünfundzwanzig ging der Notruf einer männlichen Stimme in der Leitstelle ein. Um neun Uhr achtundzwanzig wurde Voss in Kenntnis gesetzt, woraufhin er mit seinem Kollegen Michael Brandtner zur Baustelle am Klinikum fuhr. Eine Streifenwagenbesatzung und ein NAW waren bereits vor Ort, der Fundort war weiträumig abgesperrt. Voss und Brandtner arbeiteten sich mit ihrem Ausweis in der Hand durch die gaffende Menge bis zum Absperrband. Ein uniformierter Polizist hob das Absperrband hoch, um die beiden durchzulassen.
„Moin Richard, was liegt an?“
„Moin Jürgen. Eine tote Frau, ungefähr Mitte dreißig. Vielleicht ein Unfall, ein Kapitalverbrechen kann aber noch nicht ausgeschlossen werden. Spusi ist kurz vor euch eingetroffen.“
„Danke, Richard.“
„Kommst du heute Abend eigentlich zum Training, Jürgen?“
„Hatte ich eigentlich vor. Hängt wohl davon ab, was uns hier erwartet.“
Voss und Brandtner gingen zum Fundament des Erweiterungsbaus, wo tief unten in einem Schacht ein scheinbar lebloser Frauenkörper lag. Die Spurensicherung forderte ein Spezialteam der Feuerwehr für die Bergung im Schacht an. Das Angebot des Bauleiters, einen Spusi-Mitarbieter mit einem Baukran in den Schacht hinunter fahren zu lassen, mochte keiner aus dem Spusi-Team annehmen. Es vergingen einige Minuten, bis die Berufsfeuerwehr Biberlingen vor Ort war und den Einsatz mit ihrer Spezialausrüstung vorbereitete.
Die Wartezeit überbrückte Brandtner mit der Befragung der am Sperrband stehenden Bauarbeiter und Gaffer, während Voss dem gerade in einen Baucontainer gehenden Bauleiter folgte. Am Container angekommen klopfte Voss an die offen stehende Tür und wurde vom gerade telefonierenden Bauleiter mit einer Handbewegung hereingebeten. Der Bauleiter beendete das Telefonat und begann die Konversation.
„Marquardt, kommse rein. Ick bin hier der Bauleiter. In so einem Fall muss ick natürlich erstmal meinen Chef informieren.“
„Voss, Kripo Biberlingen. Haben Sie die Frau entdeckt?“
„Ne, det war mein Polier, der Franz Quast. Wir wollten jerade mit die Verfüllung anfangen.“
„Kann das ihrer Meinung nach ein Unfall gewesen sein?“
„Na ja, ick wüsste eijentlich nich', wat ne Frau hier in der Nacht machen sollte, dat sie da in den Schacht rinplumpst. Vielleicht hat se ja enen übern Durst jetrunken.“
„Ja, vielleicht. Wer baut hier eigentlich?“
„Ick arbeite für FlaKo, Flachner und Kochnowski, und die meisten anderen och. Natürlich och noch andere Jewerke, aber die meisten kommen ja erst, wenn der Rohbau fertig ist.“
„Wie kommen sie darauf, dass die Frau in der Nacht in den Schacht gefallen ist?“
„Na ja, am Abend oder am Morgen wäre den Jungs hier 'ne Frau wohl uffjefallen!“ Marquardt grinste.
„Ok, danke. Wie kann ich Sie erreichen?“
Marquardt gab Voss seine Visitenkarte, bevor dieser den Container wieder in Richtung Schacht verließ, drehte sich noch einmal um und fragte nach dem Namen des Poliers.
„Quast. Franz Quast. Den finden se da drüben beim Materialcontainer.“
Am Absperrband war es nicht mehr so voll, was wohl daran lag, dass man von dort aus ohnehin nicht in den Schacht schauen konnte. Dafür wuselte sich die kleine forsche Reporterin vom lokalen Sender BiRa mit einem Mikrofon in der Hand durch die verbleibenden Schaulustigen.
Voss versuchte noch die Kurve zu kriegen, wurde aber von den großen Augen, die über dem Mikrofon zu sehen waren, erspäht und eine Flucht schien sinnlos. Voss hasste Interviews, vor allem, wenn es ohnehin nichts zu erzählen gab.
„Hallo Herr Voss! Können Sie unseren Hörern schon etwas sagen?“, fragte Dörte Senda, während sie auf den Hauptkommissar zulief.
„Guten Morgen.“
Den Namen der Mikrofonesse hatte Voss auf den Lippen, konnte sich aber nicht mehr erinnern. Er glaubte, dass er sie Anfang des Jahres im Zusammenhang mit dem Suizid des älteren Ehepaares in Waldlingen schon gesprochen hatte.
So fuhr er ruhig und nichtssagend - wie ein Fußballspieler, der gerade eine Niederlage schönkommentiert – fort.
„Wir haben die Ermittlungen gerade erst aufgenommen. Wir gehen zur Zeit noch von einem Unfall aus. Alles Weitere nach...“
„...der Obduktion“, kam Senda ihm zuvor, während sie ihr Mikrofon schon am Kabel nach unten kippen ließ, „das kenne ich schon aus dem „Tatort.“
Als Katharina gerade etwas Platz für die Warenannahme machen wollte, kam Caro auf sie zu:
„Hast du schon gehört? Sie haben eine Leiche gefunden!“
„Oh, hast du einen neuen Krimi angefangen?“
„Nein, ehrlich. Habe ich gerade im Radio gehört. Wahrscheinlich eine Frau. Aber Genaues weiß ich auch noch nicht. Jürgen kommt aber heute Mittag auf einen Kaffee vorbei, der kann uns bestimmt etwas erzählen.“
Katharina war ein wenig auf die Neuigkeiten gespannt. Eine echte Leiche im verträumten Biberlingen? Allerdings war ja noch gar nicht klar, ob es sich um ein Verbrechen handelte oder um einen Unfall und ob es überhaupt stimmt. Zu Mittag würden sie mehr wissen, so ging die Arbeit im Laden zunächst ganz normal weiter.
Der nächste Kunde, der den Laden betrat war Hans-Helmut Neuberger, der Vater von Svenjas Freundin Lena. Katharina begrüßte ihn, gab ihm auf Grund seiner verbundenen rechten Hand automatisch die linke und man kam ins Gespräch. Smalltalk. Neubergers wollten in diesem Jahr gleich zu Beginn der Ferien für zwei Wochen nach Dänemark fahren, da Hans-Helmut sich mit den Arbeitskollegen koordinieren musste, die ebenfalls auf die Ferienzeit angewiesen waren.
Katharina wünschte noch einen schönen Urlaub und Neuberger wollte gerade den Laden verlassen, als ihm der Grund für seinen Besuch wieder einfiel. Er brauchte noch einen Reiseführer für Lolland, Falster und Seeland, da sie in diesem Jahr in Marielyst, dem vermeintlich schönsten Badestrand Dänemarks, ein Ferienhaus gemietet hatten. Katharina empfahl den handlichen Polyglobe, Neuberger sagte zu und bezahlte.
„Sagen Sie, haben Sie schon etwas von der geplanten Flugplatzerweiterung gehört? Da soll es ja im Rathaus demnächst eine Info-Sitzung geben“, fragte Katharina.
Neubergers Gesicht war von einem Moment auf den anderen wie versteinert. Er erzählte von Lenas Arztbesuch und der Mutmaßung von Dr. Schulte, dass es demnächst sogar im Klinikum eine Abteilung für Flugmedizin geben könnte. Eine Bestätigung erhielt er mehr oder weniger inoffiziell bei seinem Besuch im Kontrollturm von einem der geschwätzigen Flugleiter, der dem eventuellen Ausbau freudig entgegen sah.
Voss und Brandtner waren zunächst wieder ins Büro gefahren.
„So, was haben wir denn bisher?“, sagte Voss während er das gerade ausgedruckte Foto vom Schacht mit dem Opfer, welches er mit der Handy-Kamera gemacht hatte, mit einem Magnet an ein freies Whiteboard fixierte.
„Den Namen der Frau kennen wir noch nicht und die Tatzeit ist bisher nur grob bekannt.“
„Genau“, sagte Brandtner. „So etwa zwischen zwanzig Uhr und - wann fängt man denn eigentlich auf dem Bau an - um sechs? Das wären dann acht Stunden. Die Befragung des Bautrupps hat bisher nichts ergeben; die Liste der Befragten habe ich hier.“
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