»Sie räumen also ein, dass jemand schuld am Tode von Frau Wenzel sein könnte?«, brachte sich der Hagere wieder zu Gehör.
»Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte Melanie, »ich kann mir überhaupt nicht erklären, was passiert ist und zermartere mir seit Tagen das Hirn über die Ursachen«, fügte sie hinzu.
»Können Sie sich vorstellen, dass Ihrer Großmutter jemand nach dem Leben trachtete?«, war nun die Blonde wieder an der Reihe.
»Nein, natürlich nicht«, rief Melanie, »meine Großmutter war der gütigste Mensch, ohne weltfremd zu sein. Sie hatte ein gesundes Misstrauen und durchschaute Menschen innerhalb kürzester Zeit«, fügte sie verzweifelt hinzu.
»Kennen Sie einen Baldur Lichter?«, fuhr die Blonde unbeeindruckt fort.
»Nicht persönlich. Ich weiß nur, dass er für Großmutter Besorgungen machte und sie ihn als Freund betrachtete«, antwortete Melanie wahrheitsgemäß.
»Haben Sie eine Ahnung, wie weit die Freundschaft ging?«, fragte der Hagere scheinheilig.
»Meine Großmutter hat nicht leichtfertig einen Menschen als ihren Freund bezeichnet. Baldur muss sich diese Freundschaft verdient haben. Er war immer für sie da, und sie haben sehr anregende Gespräche geführt. Und um ihre nächste Frage gleich vorwegzunehmen - er war nicht ihr Liebhaber«, entgegnete Melanie, die den obszönen Unterton der Frage sofort verstanden hatte. »Baldur Lichter hätte ihr Enkel sein können, und Großmutter war unempfänglich für die Reize eines so jungen Mannes.«
»Nun, wenn Sie so genau über die Psyche der alten Dame Bescheid wussten ...«, wollte er ansetzen.
Melanie ließ ihn gar nicht erst ausreden: »Niemand sonst kannte sich besser in der Psyche meiner Großmutter aus als ich. Ich habe mein ganzes bisheriges Leben an ihrer Seite verbracht. Wir hatten absolut keine Geheimnisse voreinander«, konterte sie bereits leicht gereizt.
»Wie erklären Sie sich die Tatsache, dass Baldur Lichter einen Schlüssel für die Wohnung von Frau Wenzel besaß, dort ein- und ausging, Sie ihm aber nie begegnet sind?«, spielte die Kühle ihren Trumpf aus.
»Das ist ganz einfach zu erklären«, verblüffte sie die beiden, »Großmutter verband mit Baldur etwas Besonderes, das nur die beiden etwas anging und fern von jeglicher Sexualität war. Großmutter fand die Zeit noch nicht reif dafür, uns einander vorzustellen, und ich tolerierte ihre Entscheidung. Außerdem ist Baldur Krankenpfleger von Beruf und hat sehr unregelmäßigen Dienst.«
»Das ist uns bekannt«, gab die Blonde nicht auf. »Wissen Sie eigentlich dass Herr Lichter im Testament bedacht worden ist?«
»Nein, aber ich gönne es ihm. Großmutter wusste immer, was sie tat. Außerdem hat sie Baldur so beschrieben, dass ihm jeder Tag mit Großmutter wertvoller gewesen ist, als es eine Erbschaft je sein könnte«, meinte Melanie voller Überzeugung.
»Sie trauen ihm also kein Verbrechen zu, obwohl Sie ihn nicht persönlich kennen?«, bohrte jetzt der Hagere.
»Nein, nein, nein. Alles was ich an Menschenkenntnis besitze, habe ich von meiner Großmutter. Warum sollte ich ihrem Urteil über Herrn Lichter also nicht trauen?« Langsam wurde Melanie wütend.
»Eine Nachbarin ihrer Großmutter ist da ganz anderer Meinung, wenn es um Herrn Lichter geht«, ließ die Blonde nicht locker.
»Die Meinung dieser Frau ist mir egal. Wahrscheinlich war sie eifersüchtig, dass Baldur sich nicht um sie gekümmert hat«, sprach Melanie und wunderte sich plötzlich selbst, wie sie Baldur in Schutz nahm. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie Recht hatte.
Frau Schirmer und Herr Rohn sahen sich einen Moment lang an und Melanie hatte den Eindruck, dass sie sich ohne Worte verständigten, wer die nächste Frage stellen wollte. Der Hagere hatte verstanden, dass er weiter machen sollte und begann: »Frau Basler, Sie behaupten, sich über die Gefühle ihrer Großmutter sehr gut auszukennen. Können Sie in Erwägung ziehen, dass Frau Wenzel den Freitod gewählt hat?«
»Das ist absolut lächerlich, mir diese Frage zu stellen«, sagte Melanie, »wenn Sie mir zugehört hätten, wüssten Sie, dass Großmutter die Letzte war, die so etwas getan hätte. Außerdem wäre mir ihre Absicht mit Sicherheit nicht verborgen geblieben.«
»Wir haben Ihnen sehr genau zugehört, davon können Sie ausgehen«, verteidigte die Blonde ihren Kollegen, »nur ist es für uns nicht so einfach, uns ein Bild über einen Menschen zu machen.«
»Für mich gibt es nur eine einzige Erklärung für den Tod meiner Oma«, sprach Melanie mehr zu sich selbst, deshalb benutzte sie auch erstmals die Koseform von Großmutter. »Es kann sich nur um einen schrecklichen Unfall handeln.«
»Diese Möglichkeit haben wir natürlich auch nicht außer Acht gelassen«, meinte Herr Schirmer mit leicht belehrendem Unterton, »die Untersuchungen in der Wohnung von Frau Wenzel sind abgeschlossen und wir sind auch gekommen, um Ihnen die Schlüssel auszuhändigen.«
Dafür habt Ihr ja einen enormen Vorlauf gebraucht, dachte Melanie und zündete sich eine Zigarette an. Die wortlos in die Runde gehaltene Schachtel wurde mit einem doppelten Kopfschütteln quittiert. »Und was haben Sie herausgefunden?«, wollte sie wissen.
»Wir fanden die Wohnungstür verschlossen vor. Die Schlüssel lagen auf dem kleinen Schränkchen neben der Tür. Damit ist ein fremder Besuch ziemlich unwahrscheinlich, da Ihre Großmutter sicher nicht hinter ihm abgeschlossen hätte. Neben der offenen Balkontür war die Schublade des Sideboards halb herausgezogen. In der Schublade lag unter anderem eine geöffnete, sehr kleine Schachtel, die leer war. Kannten Sie den Inhalt dieser Schachtel, oder wissen Sie, ob sich zum Zeitpunkt der Geschehnisse schon länger darin nichts mehr befunden hat?«
»Ich hatte nicht die Angewohnheit, in den Schubladen meiner Großmutter zu wühlen. Und von sich aus hat sie mir nichts Derartiges gezeigt. Wenn die Schachtel jemals einen Inhalt besessen hat, wird er nicht so wichtig gewesen oder nur Großmutter etwas angegangen sein«, antwortete Melanie trocken.
»Womit wir genauso schlau wie vorher wären«, dachte die Blonde laut. »Entschuldigung, das sollte kein Vorwurf sein, aber wir hatten gehofft, dass Sie uns weiterhelfen könnten.«
Der Eisblock zeigt menschliche Regungen, fiel Melanie auf.
»Auf dem Balkon fanden wir nur Fußspuren Ihrer Großmutter, was nicht viel bedeutet, da der Abstand bis zur Brüstung so gering ist, dass man ohne Weiteres jemandem von der Tür aus einen Stoß versetzen kann«, vernahm Melanie weiter.
Ihr Blick verschleierte sich. Zu schrecklich war die Vorstellung, dass Irmgard einem Verbrechen zum Opfer gefallen war.
»Ungewöhnlich ist, dass sonst keine Schranktür oder Schublade geöffnet war«, hörte sie den Hageren weiterreden. »Alles machte einen aufgeräumten Eindruck, und wir fanden diverses Bargeld und eine gefüllte Schmuckkassette. Wenn es dem Unbekannten um etwas gegangen war, muss es sich also in dem erwähnten Kästchen befunden haben.«
»Ich kann nur noch einmal wiederholen, dass ich mir nichts anderes als einen Unfall vorstellen kann. Obwohl ich verdammt noch mal keinen Grund sehe, warum meine Großmutter freiwillig auf die Fußbank gestiegen sein soll«, sagte Melanie verzweifelt.
»Der Fußboden des Balkons war noch feucht, als wir die Wohnung betraten und das Laub, das herumlag, kann eine böse Rutschfalle sein«, gab die Schirmer zu bedenken, »umso mysteriöser, warum sich die alte Dame zusätzlich mit der Fußbank in Gefahr begeben haben soll.«
Das hatte ich auch gerade schon festgestellt, dachte Melanie und wünschte, dass die beiden endlich genug gebohrt hätten.
Als ob sie es laut gesagt hätte, erhoben sich beide wie auf Kommando.
»Ja, Frau Basler, es wird wohl noch etwas dauern, bis die Wahrheit ans Licht kommt. Vielleicht ist uns ja auch „Kommissar Zufall“ eine Hilfe. Wir werden mit Ihnen in Kontakt bleiben und bitten Sie, sich für eventuelle weitere Fragen zur Verfügung zu halten.«
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