Melanie saß in ihrem Bett und wünschte sich sehnlichst, ihre Großmutter wäre noch an ihrer Seite. Sie hatte mittlerweile die dritte Zigarette geraucht, ohne bewusst den Rauch zu genießen. Sie drückte die Kippe im Aschenbecher aus und legte sich in ihre Schlafposition. Auf einmal spürte sie die Erschöpfung und hatte das Bedürfnis, sich in ihre Kindheit hinüberzuträumen. Ein unfehlbares Mittel war seit Jahren der Gedanke an ihre frühere Einschlafzeremonie.
Irmgard hatte viele Jahre jeden Abend auf ihrem Bett gesessen und ihr aus ihrem Lieblingsmärchenbuch vorgelesen. Das Buch hatte schon Melanies Mutter gehört und damals den gleichen Zweck erfüllt. Es enthielt Märchen aus der Sammlung der Gebrüder Grimm und war mit zauberhaften, eingeklebten Bildern illustriert. Man konnte darauf Rapunzels langes Haar bewundern oder eine weiß gekleidete Frau mit einem Baby im Arm sehen, an deren Seite ihr Brüderchen, das in ein Reh verwandelt worden war, stand.
Diesmal blätterte Melanie das Buch in Gedanken mehrmals durch, bis sie endlich einschlief.
Übergangslos schaute sie von oben auf einen verschneiten Friedhof hinab. Sie schwebte langsam hinunter und erkannte an einem frischen Grab, das nur unvollständig zugeschüttet war, ein kleines, weinendes Mädchen. Es saß am Rande der Grube und strahlte große Verzweiflung aus. Abrupt wechselte Melanies Blickwinkel. Plötzlich sah sie das kleine Mädchen von unten her. Es kniete in dem kalten Schnee und schaufelte mit seinen kleinen Händen winzige Vertiefungen, die sich sofort wieder auffüllten. Die Szenerie spielte sich völlig lautlos ab. Aus dem Mund der Kleinen kam kein Ton, obwohl unentwegt dicke Tränen über ihr Gesicht rollten.
Melanie spürte, dass sie bewegungsunfähig war. Irgendetwas zwängte sie, wie ein Schraubstock ein. Sie hatte das Gefühl, als ob sich eine dicke Schneedecke über ihren Kopf schob und ihr langsam die Luft zum Atmen nahm. Als das Grauen seinen Höhepunkt erreicht hatte, schrie sie aus Leibeskräften und bäumte sich mit größter Anstrengung auf.
Sie wäre fast mit Trutz zusammengestoßen, der auf ihrer Bettkante saß und sie sofort an seine Brust drückte. Da Melanie noch nicht Traum und Realität unterscheiden konnte, wehrte sie sich heftig und versuchte ihn wegzustoßen. Er ließ sich davon nicht beirren und sprach behutsam auf sie ein: »Scht, Liebling, du hast nur geträumt. Du brauchst keine Angst mehr zu haben.«
Sich nur langsam beruhigend, fiel Melanie kraftlos in ihre Kissen zurück. Sie weinte hemmungslos und wirkte hilflos wie ein Säugling. Trutz legte sich zu ihr und küsste ihr die Tränen vom Gesicht. Seine kräftigen Hände strichen über ihren Körper und landeten bei ihren Brüsten, die er sofort massierte, mit aller Vorsicht, zu der er fähig war. Seine etwas linkische Art ließ seine Zärtlichkeiten immer etwas grober ausfallen, als er es eigentlich beabsichtigte.
Melanie hatte sich längst an sein ungestümes Wesen gewöhnt und nach einigen Anfangsschwierigkeiten sogar Gefallen daran gefunden. Irgendwie erinnerten seine Liebesbezeugungen immer ein wenig an eine Vergewaltigung. Dass sie es trotzdem genoss, machte ihr manchmal etwas Sorge. Der Gedanke, dass sie geheime masochistische Neigungen haben könnte, bereitete ihr Unbehagen.
Während Trutz seiner Leidenschaft freien Lauf ließ, war Melanie zwischen Abwehr und Lust hin- und hergerissen. Die Tatsache, dass Trutz sie am Tage der Beerdigung bedrängte, fand sie unpassend und wenig einfühlsam. Er machte sie sogar zornig. Andererseits stieg in ihr das Verlangen. Sie ließ sich fallen und wurde von einer Woge der Lust weggetragen. Der behaarte Körper von Trutz war bald ebenso verschwitzt wie ihrer. Seine bärige Statur drohte sie zu erdrücken. Aber sie empfand keinerlei Bedrohung, sondern genoss die Vereinigung in bisher ungekanntem Ausmaß.
Der Zusammenbruch kam am nächsten Tag.
Melanie hatte traumlos im Arm ihres Liebhabers geschlafen. Als sie erwachte, fühlte sie sich ausgebrannt und antriebslos. Für den Rest der Woche hatte sie frei genommen. Ihr Chef war darüber nicht gerade begeistert, aber verständnisvoll genug, um ihren Wunsch zu genehmigen.
Trutz musste alle Überredungskunst aufwenden, um sein zubereitetes Frühstück an die Frau zu bringen. Er küsste sie in gewohnt heftiger Weise und versprach im Laufe des Tages anzurufen. Kaum hatte er die Wohnung verlassen, musste sich Melanie übergeben. Sie lag fast eine halbe Stunde im Bad vor dem Toilettenbecken. Nachdem sich ihr Magen vollständig entleert hatte, schlich sie zurück ins Bett und schaltete den Fernseher ein. Sie drehte die Lautstärke soweit herunter, dass sie nur noch leise Stimmen vernahm. Die Flut der bunten Bilder sollte sie von ihren Gedanken ablenken und verhindern, dass sie erneut Albträume plagen würden.
Am späten Nachmittag rief Trutz an und erkundigte sich nach ihrem Befinden. Sie verheimlichte ihm ihren wahren Zustand und meinte nur, diese Nacht allein schlafen zu wollen. Er gab sich notgedrungen geschlagen und versprach sich am nächsten Tag wieder zu melden.
Als am folgenden Tag das Telefon klingelte, war nicht Trutz am Apparat, sondern eine Kripobeamtin. Sie fragte, ob es Melanie recht sei, wenn sie mit einem Kollegen in einer Stunde vorbeikäme. Melanie stimmte zu und nutzte die verbleibende Zeit, sich etwas frisch zu machen. Sie registrierte erleichtert, dass ihr Magen Ruhe gab. Der gestrige Tag ohne Nahrung schien ihr gut bekommen zu sein. Nachdem sie aus dem Bad kam setzte sie Teewasser auf und legte einige Scheiben Zwieback auf einen Teller. Am Abend wollte sie sich eine leichte Gemüsebrühe kochen und Toast dazu essen. Vielleicht könnte sie dann in der nächsten Zeit wieder normale Kost zu sich nehmen.
Sie hatte sich gerade eine schwarze Hose und einen schwarzen Wollpulli angezogen und war im Begriff den Tee aufzugießen, als es an der Tür läutete. Sie öffnete und bat die beiden Kripoleute herein.
Die kleine, maskulin wirkende Frau war ungefähr in Melanies Alter und trug zu ihrem kurzen Haarschnitt Jeans und Lederjacke. Sie kam ohne Umschweife zum Thema: »Frau Basler, mein Name ist Schirmer, und das ist mein Kollege, Herr Rohn. Sie haben ihn ja schon kennengelernt, als er sie in ihrem Büro aufgesucht hat.«
»Ja, ich habe ihn dann noch mal auf dem Friedhof gesehen«, erwiderte Melanie mit leiser Stimme.
»Sie müssen entschuldigen, dass wir ihnen nicht kondoliert haben, aber wir wollten uns nicht aufdrängen, und sie schienen in keiner guten Verfassung ...«, mischte sich der etwas ältere, hagere Mann mit dunkelblondem Haar und betont lässiger Kleidung ein, um unvermittelt seine Rede abzubrechen.
»Wenn Sie den liebsten Menschen verlieren würden, wäre ihre Verfassung sicher nicht besser«, antwortete Melanie ohne scharfen Unterton. Sie standen immer noch im Korridor und Melanie bat sie, im Wohnzimmer Platz zu nehmen und bot ihnen Tee an, den sie dankend annahmen.
Melanie stellte die Teekanne auf ein Stövchen auf den runden Tisch am Fenster, gab jedem eine Tasse in die Hand und holte Kandis aus der kleinen Vitrine an der Wand. Sie selbst trank ihren Tee ungesüßt. Auf ihre Frage, ob die beiden lieber Honig wollten, verneinte Frau Schirmer, und Herr Rohn antwortete gar nicht.
Als sich Melanie zu ihnen gesetzt hatte, nahm die kühle, blonde Beamtin wieder ihre Rede auf: »Frau Basler, wir untersuchen den Todesfall ihrer Großmutter. Sie können uns glauben, dass wir Sie nur ungern in ihrer Trauer belästigen, aber es ist doch sicher auch in ihrem Interesse, wenn die näheren Umstände baldmöglichst geklärt werden.«
Irgendwie schafft es diese Frau, dass höflich vorgetragene Sätze unhöflich klingen, dachte Melanie und sagte: »Natürlich möchte ich erfahren, wie meine Großmutter ums Leben gekommen ist und ob es eventuell einen Schuldigen gibt. Aber ich weiß nicht, wie ich ihnen helfen soll.«
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