»Dann werden wir uns schnellstens diese Bücher besorgen, und wenn uns dieser Detlef gefällt, werden wir ihm schreiben, ob er uns auch zurückführt.«
Marie hatte gelacht. »Stell dir das nicht so einfach vor. Dethlefsen, wie er wirkliche heißt, kann sich vor Anfragen bestimmt kaum retten. Außerdem muss es ziemlich teuer sein. Alice und Konrad wollen deshalb auf ihren Auslandsurlaub verzichten, um mir die Behandlung zu finanzieren, die Guten. Ich habe natürlich abgelehnt.«
»Waaas? Bist du wahnsinnig? Da bietet sich dir die Chance, endlich etwas über deine Vergangenheit als Cindy zu erfahren, und du sagst: nein, danke.«
»Jetzt friss mich nicht gleich. Einmal möchte ich sie nicht um ihre Urlaubsreise bringen …«
»Aber wenn sie es dir doch angeboten haben. Du kannst ruhig davon ausgehen, dass sie zuvor gründliche Überlegungen angestellt haben.«
»Trotzdem. Irgendwie fehlt mir der Mut. Allein die Vorstellung ängstigt mich schon. Ich bin noch nicht so weit. Es muss einen anderen Weg geben, etwas über früher herauszubekommen. Lass uns erst einmal mit der Lektüre anfangen …«
»Wenn du meinst … also, ich hätte nicht nein gesagt.«
Durch den Wechsel zur Oberschule waren die beiden Mädchen getrennt worden, zumindest, was den Schulbesuch anging. Dafür verbrachten sie ihre Freizeit mehr denn je zusammen, und die beiden Schulen lagen ohnehin in Parallelstraßen. Der Grund für die Trennung war, dass Vera unbedingt Abitur machen wollte und deshalb das Gymnasium besuchte. Marie hingegen hatte die Realschule gewählt, weil sie nicht noch zwei Jahre länger Sport als Unterrichtsfach haben wollte.
Unter Maries Klassenkameraden hatte sich in der Oberschule wiederum Melanie befunden. Marie und Melanie waren zwar nicht unbedingt Freundinnen geworden, aber sie hatten einander respektiert und die Leistungen der anderen anerkannt. Für die hübsche, aber eher unscheinbare Melanie war Wiedergeburt nach wie vor kein Thema. Das sollte sich erst viele Jahre später ändern. Nur hätte das Melanie zu damaliger Zeit niemals geglaubt. Noch viel weniger, dass ausgerechnet ihre Mitschülerin Marie sich in einer ganz ähnlichen Situation, einer Zwickmühle, befinden würde.
Anders als in der Grundschule waren Vera und Marie wegen ihres altmodischen Kleidungsstils nicht mehr belächelt worden. Im Gegenteil. Die Jungen umwarben sie, weil sie sich von der Masse abhoben. Doch während Marie dem Werben nachgab und bald den ersten Freund hatte, reagierte Vera spröde auf die Avancen. Als Marie sie einmal darauf angesprochen hatte, war Veras Reaktion ungewöhnlich heftig ausgefallen. Für sie würde nie ein anderer Mann als Peter – der Mann von dem sie träumte oder an den sie sich erinnerte – existieren, hatte Vera geantwortet. Maries Einwand, Peter würde vielleicht schon tot oder inzwischen viel zu alt für sie sein, hatte Vera mit einer Handbewegung weggewischt. Veras unerschütterliche Liebe zu einem Phantom grenzte für Marie fast an Verschrobenheit, wie sie sich puterrot im Gesicht verteidigte und kundtat, dass sie auch in Zukunft die Burschen aus der Gegenwart nicht interessieren würden. In ihrer Verzweiflung hatte sie sogar Marie angegriffen und gesagt, sie hinge doch wohl mindestens ebenso Vergangenem nach wie sie.
Später waren die Freundinnen sich in die Arme gesunken hatten sich versichert, dass Meinungsverschiedenheiten sie nicht trennen könnten und beratschlagt, wie es weitergehen sollte. Die Bücher von Thorwald Dethlefsen waren nicht wirklich hilfreich gewesen, denn Vera und Marie hatten nicht im Mittelalter oder im Barock schon einmal gelebt, sondern in den fünfziger und sechziger Jahren. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich selber auf die Suche zu machen.
Zunächst hatten sie damit begonnen, die Hochhäuser, die es in den sechziger Jahren schon gegeben hatte, in Augenschein zu nehmen. Doch weder im Hansaviertel noch beim Corbusierhaus hatte es bei Vera „klick“ gemacht. Das unweit gelegene Märkische Viertel oder die Gropius Stadt im Süden von Berlin kamen ohnehin nicht infrage, da beide damals noch nicht existiert hatten. Ihre Suche auf Ostberlin auszuweiten, machte erst nach dem Mauerfall 1989 Sinn, als man problemlos das fremde Terrain erkunden konnte. Die Plattenbauten ließen Vera ahnen, womöglich doch zuvor in der ehemaligen DDR gelebt zu haben.
Bei Marie war es ähnlich gewesen, als sie am U-Bahnhof Onkel Toms Hütte ausgestiegen war. Denn Alice’ Erwähnung, Cornell habe als Kind Bücher für Jungen wie „Onkel Toms Hütte“ gelesen, hatte bei Marie bei dem Namen ein seltsames Gefühl erzeugt. Ihre Aufregung vor Ort hatte zwar Hoffnung erzeugt, aber wo hätte sie anfangen sollen? Das weitläufige Gebiet Straße für Straße und Haus für Haus zu erkunden, war ihr fast aussichtslos erschienen. Vielleicht sollte sie mit Vera einen gemeinsamen Versuch unternehmen, hatte sie gedacht.
Im Zeitungsarchiv eines Museums nachzusehen, war beiden zu dieser Zeit nicht eingefallen. Offensichtlich war die Zeit dafür noch nicht reif gewesen.
Auf dem Heimweg vom Friedhof suchte Trutz vor Melanies Haustür einen Parkplatz. Er schimpfte wie ein Rohrspatz, dass um die Mittagszeit schon alles zugeparkt war. Melanie brachte das Kunststück fertig, ihn zu überzeugen, lieber allein sein zu wollen, ohne dass er einschnappte.
Es fiel im leichter, ihren Wunsch zu respektieren, weil er somit im Laden noch nach dem Rechten sehen konnte. Seine Videothek befand sich noch im Aufbau und die Angestellten waren ebenso neu für ihn. Vertrauen musste sich erst noch aufbauen. Die Aussicht auf einen gemeinsamen Abend und dass Melanie ihm noch keine Absage für die Nacht erteilt hatte, ließ ihn ohne Murren mit einem gehauchten Kuss abfahren.
Melanie betrat ihre Wohnung und schaltete zuerst den Anrufbeantworter ein, nachdem sie Mantel und Schuhe abgelegt hatte. Sie wollte jetzt mit niemandem reden. Mechanisch zog sie sich aus und hüllte sich in ihren weichen Bademantel. Den Rest Kaffee vom Morgen goss sie in eine größere Tasse, und mit Aschenbecher und Zigaretten ausgerüstet, stand sie kurze Zeit unschlüssig in der Küche und konnte sich nicht entscheiden, ob sie sich ins Bett legen oder lieber in ihr Arbeitszimmer gehen wollte. Nicht, dass sie die Absicht gehabt hätte, zu arbeiten, aber der schmale Raum übte eine besondere, beruhigende Wirkung aus.
Als sie vor zwei Jahren die Wohnung gefunden hatte, war dieser Raum mit Ausschlag gebend gewesen, dass sie hier eingezogen war. Der Vormieter hatte das kleine Zimmer als Dunkelkammer genutzt. Es war schwarz gestrichen und mit schweren Samtvorhängen vor den Fenstern ausgerüstet. Auch die Regale und der große Schreibtisch waren schwarz. Melanie hatte noch einen verchromten Deckenfluter, einen Freischwinger aus Chrom und schwarzem Leder und eine große Stechpalme dazugekauft. Da der Raum für ein Bett ohnehin zu eng war, nutzte sie ihn zum Arbeiten, Lesen und Träumen.
Die anderen Interessenten hatten bei der Besichtigung der Wohnung genauso verschreckt reagiert wie später Trutz. Alle hatten sofort an die Mühe gedacht, die Wände wieder hell zu streichen und waren nicht bereit gewesen, schwarze Möbel zu übernehmen, die sie für eine Geschmacksverirrung der achtziger Jahre hielten. Melanie hatte sofort die besondere Atmosphäre gespürt, die der Raum ausstrahlte. Da sie einen Hang zu Wohnschlafzimmern hatte, reichte ihr das angrenzende, riesige Zimmer völlig. Trutz ging nur ungern in ihre „Gruft“, wie er sagte. Melanie war es recht. Sie hatte nichts dagegen, einen Ort ganz für sich allein zu haben.
An diesem Tag entschied sie sich trotzdem für ihr Bett. Die kurze, unruhige Nacht machte sich bemerkbar, und Melanie hatte das Bedürfnis, sich einzukuscheln. Sie nahm ihre beiden Kopfkissen in den Rücken, lehnte sich mit dem Kopf an die Wand und zog die Bettdecke bis über die Brust. Den Rauch der ersten Zigarette inhalierte sie bewusst und versuchte, dabei ihre Gedanken zu ordnen.
Читать дальше