Ihn konnte das nicht vom Besuch des Gottesdienstes abhalten. Er war anderes Wetter gewohnt. Die minus vier Grad erschienen ihm geradezu milde im Vergleich zu den minus zwanzig, die um diese Jahres- und Tageszeit in seiner Heimat herrschten. Andächtig folgte er der Liturgie, die hier eine ganz andere Form hatte als in der Heimat. Schwermütiger die Gesänge dort und viel ausladender. Doppelt so lange dauerte der Gottesdienst daheim. Hier war alles in einer Dreiviertelstunde erledigt. Trotzdem tat es ihm gut.
Eine Weile blieb er noch knien auf seinem Platz, nachdem die Meßfeier zu Ende war und die Kirche sich langsam leerte, bis er allein zurückblieb. Einmal mehr wurde ihm bewußt, daß die Zeit in Deutschland, das halbe Jahr, das er jetzt hier war, und der Verlust seiner Familie ihn zum Einzelgänger gemacht hatten. Er war ‚Der Ruski‘, ein sonderbarer Typ mit einem komischen Akzent, mit dem keiner so recht etwas anzufangen vermochte.
Er bemerkte den Priester, der die Meßfeier zelebriert hatte, erst, als er unmittelbar vor ihm stand.
„Kann ich Dir helfen?“ fragte der Mann. „Geht’s Dir nicht gut?“
Mikhail sah ihn von unten herauf an und schüttelte den Kopf. Als er sah, daß der Priester ihn anlächelte, lächelte er zurück.
„Nein, danke. Mir geht es ausgezeichnet.“
Das stimmte zwar nicht ganz, denn gerade hatte er wieder einmal an Svetlana gedacht, aber das brauchte er dem unbekannten Priester ja nicht unbedingt zu erzählen.
Obwohl ihm der Mann auf Anhieb sympathisch war. Er war noch ziemlich jung, Mitte dreißig vielleicht, eine hoch aufgeschossene Gestalt mit freundlich blickenden, grau-grünen Augen, hinter einer goldfarben geränderten Brille und dichtem, schwarzen Haar, das bis an den Kragen reichte.
„Du kommst jeden Sonntag zum Gottesdienst“, stellte der Geistliche fest. „Ich beobachte das jetzt schon eine ganze Weile. Und Du bist immer allein.“
Mikhail nickte, sagte aber nichts.
„Für die anderen aus der Familie ist es wohl noch zu früh?“ fragte der Priester weiter.
„Kaum“, antwortete Mikhail. „Ich lebe allein.“
Der Andere war erstaunt. „Du lebst allein? Wie alt bist Du denn, daß Du schon eine eigene Wohnung hast?“
„Ich bin sechzehn, und ich habe keine eigene Wohnung. Ich lebe im Internat auf der Burg“, gab Mikhail in seinem üblichen, emotionslosen und gleichförmigen Tonfall zurück, mit dem er stets die Fragen der Lehrer zu beantworten pflegte.
„Und dann kommst Du den weiten Weg hierher zur Frühmesse? Alle Achtung.“
„Das ist nicht besonders mühsam. Es fährt ein Bus. Und der kommt genau zur richtigen Zeit vor der Kirche an.“
„Das mag ja sein, aber trotzdem finde ich es bemerkenswert, daß jemand in Deinem Alter jeden Sonntag so etwas auf sich nimmt.“
Mikhail zuckte dazu nur mit den Achseln. Er war inzwischen aufgestanden und sah den Priester geradeheraus an.
„Du bist nicht von hier.“ Es war mehr eine Frage als eine Feststellung.
„Nein. Ich komme aus Rußland.“
„Und Du bist Katholik?“
„Nein, russisch-orthodox. Aber eine russisch-orthodoxe Kirche gibt es hier nicht. Jedenfalls kenne ich keine. Davon abgesehen hält der Bus ja, wie gesagt, gleich vor der Tür dieser Kirche, und der Liebe Gott ist ja auch derselbe.“
Mikhail gestattete sich ein kleines Lächeln.
Der Priester hingegen lachte, daß es in dem leeren Kirchenschiff widerhallte.
„Nicht schlecht, diese Begründung. Demnach führen uns also die städtischen Verkehrsbetriebe einen weiteren Gottesdienstbesucher zu. Und noch dazu einen, der die Frühmesse besucht. Ich sollte dem Oberstadtdirektor einen Dankesbrief schreiben.“
Jetzt lachte auch Mikhail. Der Priester war ihm sympathisch. Auf jeden Fall war er der erste, der sich auf ein längeres Gespräch mit ihm einließ. Und er schien es auch noch weiterführen zu wollen, denn er ließ sich auf der Gesangbuchablage der Bank nieder.
„Seit wann bist Du denn im Internat?“
„Seit dem Beginn des Schuljahres.“
„Und, gefällt’s Dir dort?“
Wieder zuckte Mikhail mit den Achseln. „Die Schule ist gut. Sie sorgen dafür, daß man eine Menge lernt.“
Das war nicht ganz die Antwort, die der Geistliche erwartet hatte, weil sie weder Zustimmung noch Ablehnung ausdrückte.
„Heimweh?“ fragte er deshalb.
„Kaum“, antwortete Mikhail.
An der Art, wie der Junge diese knappe Antwort hervorpreßte, merkte der Pfarrer, daß er anscheinend einen wunden Punkt berührt hatte.
„Willst Du darüber reden?“ fragte er deshalb.
Mikhail zögerte einen Moment. Doch dann schüttelte er den Kopf. Beide schwiegen sie daraufhin. Eine unbehagliche Situation. Schließlich erhob sich der Priester von der Bank, auf der er gesessen hatte.
„Wenn Du es Dir anders überlegst, Du findest mich im Pfarrhaus, gleich neben der Kirche.“ Dann nickte er Mikhail zu, drehte sich um und schritt langsam zum Eingang der Sakristei. Mikhail blieb so lange sitzen, bis der Mann darin verschwunden war, dann ging er ebenfalls hinaus.
***
Er wartete eine gefühlte Ewigkeit auf den Bus, der ihn zurück zum Internat brachte. Es lag einen kleinen Fußweg entfernt von der Endhaltestelle der Buslinie, auf einem nicht allzu hohen Hügel. Eine alte Burg, die man vor Jahren restauriert und zu einer Internatsschule umgebaut hatte.
Eine Straße führte dort hinauf, die sich einmal um den Hügel herumwand und ein kleiner Fußweg, über den man in direktem Anstieg nach oben gelangte. Der Fußweg war nicht geräumt und tief verschneit, aber Mikhail nahm ihn trotzdem, denn er war wesentlich kürzer als die Straße.
Fast oben angelangt, kamen ihm zwei Mädchen entgegen. Er kannte sie beide. Kerstin und Lara. Sie gingen in seine Klasse. Gesprochen hatte er noch nie mit ihnen. Auch an diesem Morgen rechnete er nicht damit, daß es dazu kommen würde. Sie würden ihn vermutlich nicht einmal ansehen.
Plöztlich rutschte eine von ihnen auf dem glatten, steil abschüssigen Weg aus und fiel vornüber, geradewegs in seine Arme. Der Aufprall war stark genug, auch ihn von den Füßen zu holen. Hinterrücks stürzte er in den tiefen Schnee neben dem schmalen Pfad. Das Mädchen, es war Lara, stürzte auf ihn. Instinktiv hatte er sie festgehalten. Nun lagen sie am Boden, ihre Gesichter dicht voreinander.
„Choppla“, machte er mit seinem rauen, russichen Akzent und lächelte sie an.
Einen Moment lang war sie zutiefst erschrocken, aber dann entspannten sich ihre Gesichtszüge.
„Chast Du Dir wehgetan?“ fragte er besorgt.
Sie schüttelte den Kopf und wollte sich aufrichten, obwohl er sie immer noch festhielt, was schließlich dazu führte, daß sie beide auf die Seite rollten. Als er es merkte, ließ er sie los, sprang auf und hielt ihr die Hand hin. Sie griff danach und ließ sich von ihm hochziehen. Wieder lächelte er sie an und hielt dabei ihre Hand fest, ein wenig länger als nötig.
„Alles in Ordnung?“
Seine Stimme war sanft, klang fast liebevoll. Sie sah ihm direkt in die Augen. Ihr Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. „Tut mir leid.“
„Nicht schlimm. Ist ja nichts passiert“, antwortete er. „Wo wollt Ihr denn hin, so eilig?“
„In die Stadt“, antwortete Kerstin, die inzwischen dazugekommen war. Sie faßte ihre Freundin am Ärmel. „Komm, Lara, wir müssen uns beeilen, sonst ist der Bus weg“, drängte sie.
„Ist er schon“, sagte Mikhail. „Vor zehn Minuten. Ich bin damit aus der Stadt gekommen.“
„So ein Mist“, schimpfte Kerstin und stampfte mit dem Fuß auf. „Der nächste fährt erst wieder in zwei Stunden. Was sollen wir denn jetzt machen?“
„Ich würde sagen, zurückgehen“, schlug Mikhail vor. „Oder wollt Ihr bei der Kälte zwei Stunden lang an der Haltestelle stehen?“
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