Visnijakov war nicht der einzige Passagier an Bord. Im hinteren Teil der Maschine warteten drei Männer und eine Frau auf ihn. Jedoch beachtete er sie vorerst nicht, sondern er nahm vorne an einem kleinen Tisch Platz, wo ihm die Stewardess ein Mittagessen servierte, gleich nachdem sie die Reiseflughöhe erreicht hatten. Danach kümmerte sie sich um die vier anderen Passagiere. Alle schwiegen während sie aßen.
Nachdem Visnijakov seine Mahlzeit beendet und die Stewardess den Tisch abgeräumt hatte, rief er: „Kalinin, daweij!“
Der Angesprochene erhob sich von seinem Sitz und ging nach vorne. Er hatte Mühe, sich in dem kleinen Flugzeug zu bewegen, denn er war außergewöhnlich groß, ein hagerer, schwarzhaariger Mann mit buschigen Augenbrauen und finsteren Gesichtszügen, dem das Lachen oder Lächeln ganz offensichtlich schon in der Kindheit verlorengegangen war. Immerhin trug er einen dunkelgrauen Maßanzug mit weißem Hemd und einer bordeauxroten Krawatte.
Visnijakov deutete mit der Hand auf den Platz ihm gegenüber und wartete, bis der andere Platz genommen hatte, bevor er ihn auf russisch ansprach: „Was haben Sie zu berichten?“
„Das Material ist seit ein paar Tagen spurlos verschwunden. Als meine Leute in Russland den Fahrer des Transportes befragen wollten, war er zunächst nicht auffindbar. Stunden später entdeckte man ihn dennoch. Tot. In der Spedition, der der Lastwagen gehörte, gab man sich ahnungslos. Von einem verschwundenen Lastwagen wisse man nichts, alle Fahrzeuge seien ordnungsgemäß unterwegs, der betreffende derzeit in Kasachstan. Allerdings habe man momentan keine Verbindung zum Fahrer. Das sei normal und eine Sache des schlecht ausgebauten Mobilfunknetzes. Man erwarte ihn jedoch in einigen Tagen zurück.“
„Und damit haben Sie sich abspeisen lassen?“
„Vorerst ja. Wir hielten es für besser, daß Sie sich selbst ein Bild machen, bevor wir andere Maßnahmen ergreifen.“
Visnijakov nickte zustimmend. Er wußte, worin diese ‚anderen Maßnahmen‘ bestehen würden, und er war mit deren Anwendung keineswegs einverstanden. Jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt.
„Gut. Tun Sie vorerst nichts weiter. Wir werden sehen, was die Leute zu sagen haben. Was ist mit denen aus der Fabrik?“
Kalinin schüttelte den Kopf. „Keine Chance, freiwillig sagt da keiner was.“
„Dann lassen Sie sie. Bis auf weiteres. Wir wollen keinen Staub aufwirbeln.“
Wieder nickte Visnijakov und machte eine Handbewegung, die andeuten sollte, daß der andere entlassen war.
„Schicken Sie mir die Frau“, sagte er noch.
Kalinin verschwand wieder im hinteren Teil der Kabine. Augenblicke später tauchte die Frau auf. Sie mochte Anfang dreißig sein, keine Schönheit im eigentlichen Sinne, aber doch eine attraktive Erscheinung, mit kurz geschnittenen, rotblonden Haaren und einer außergewöhnlich hellen Haut. Sie trug einen Hosenanzug, weiße Bluse, schwarze Pumps, dezent geschminkt, keinen Schmuck. Ihr Gesichtsausdruck hatte etwas Hochmütiges.
„Tanja Müller, Bundesinnenministerium“, stellte sie sich vor. „Ich komme auf Weisung des Herrn Staatssekretärs.“
„Lassen Sie diesen Blödsinn“, antwortete Visnijakov schroff. „Der Staatssekretär kann Ihnen gar keine Anweisungen geben. Er kann Sie allenfalls bei Ihren Vorgesetzten anfordern. Mit Hilfe von deren Vorgesetzten. Ich kenne mich aus, was die Beziehungen zwischen dem Innenministerium und dem Bundesnachrichtendienst angeht. Und ich gehe davon aus, daß Sie zu dieser Organisation gehören. Ihr ungewöhnlicher Hausname deutet darauf hin.“
Die Frau wollte etwas erwidern, aber Visnijakov ließ sie nicht zu Wort kommen.
„Sparen Sie sich Ihre Erklärungsversuche. Sie sind unnötig. Ihre Dienstverhältnisse spielen hier keine Rolle. Wichtiger ist mir, zu erfahren, was Sie wissen.“ Wieder deutete er auf den Sessel ihm gegenüber. „Setzen Sie sich.“
***
Etwa fünf Stunden nach dem Abflug landete die Gulfstream auf dem Flughafen Roschtschino der Stadt Tyumen. Hier war es bereits dunkel, denn der Zeitunterschied zu Deutschland betrug vier Stunden.
Eine Regierungslimousine des Tyumen Oblast, des Bezirks Tyumen, wartete auf dem Rollfeld. Visnijakov und Tanja Müller ließen sich damit zum Spasskaja Hotel fahren, das etwas außerhalb des Zentrums in der Nähes des Flusses Tura lag und in dem Visnijakov regelmäßig abstieg, wenn er sich in der Stadt aufhielt.
Der Gouverneur des Bezirks Tyumen wartete auf ihn in einem Nebenzimmer des Restaurants. Die beiden Männer waren alte Bekannte, noch aus Sovjetzeiten, und sie begrüßten sich entsprechend. Natürlich in russischer Sprache. So wurde auch die Unterhaltung fortgeführt, nachdem sie und Tanja Müller am Tisch Platz genommen hatten.
Wesentliches wurde nicht beprochen. Man frischte alte Erinnerungen auf und plauderte über die allgemeine politische Lage, die Konjunktur, das Wetter und die Kunst. Beide Männer waren sich sehr wohl bewußt, daß die Frau am Tisch ihrer Unterhaltung folgen konnte, obwohl sie bis dahin noch kein Wort gesagt hatte. Der BND hätte kaum einen Agenten nach Russland geschickt, der die Landessprache nicht beherrschte.
Was Müller jedoch nicht beherrschte, war die Körpersprache der beiden Russen. Und in dieser tauschten sie sich aus. So erfuhr Visnijakov, daß auch die Administration des Tyumen Oblast keinen Hinweis über den Verbleib des Plutoniums hatte und im Moment auch keine brauchbare Spur verfolgte. Was sowohl Visnijakov als auch den Gouverneur außerordentlich zornig machte.
Ungewöhnlich war das nicht, denn das Geheimnis der beiden Männer war, daß sie beide in den Plutoniumdeal verwickelt waren. Der Gouverneur hatte das Material beschafft und war für den Transport innerhalb des Landes zuständig, Visnijakov sollte den Stoff übernehmen, sobald es die Grenze der Russischen Föderation passiert hatte. Außerdem war es seine Aufgabe, einen Käufer dafür zu finden.
Tanja Müller ahnte davon nichts. Am Ende des Abends, nachdem sie gegessen und eine Menge getrunken hatten, war sie genauso schlau wie vorher. Und das, obwohl sie sich beim Genuß der hochprozentigen, alkoholischen Getränke sehr zurückgehalten hatte.
Frustriert verschwand sie in ihrem Zimmer, zu dessen Tür Visnijakov sie galant begleitete. Und keinerlei Anstalten gemacht hatte, ihr dort hinein zu folgen. Das war nicht sein Stil. Nicht, daß er einem gelegentlichen, sexuellen Abenteuer abholt gewesen wäre, das nicht. Aber er ließ sich niemals mit Frauen ein, mit denen er sich im Nachhinein erpreßbar gemacht hätte. Und eine solche war Tanja Müller ganz gewiß. Bestimmt würde sie eine Liaison zu ihrem Vorteil zu nutzen wissen. Nicht zu ihrem persönlichen, möglicherweise, aber sicherlich zu dem ihres Dienstherren. Und darauf würde es Visnijakov auf keinen Fall ankommen lassen.
Also wünschte er ihr eine Gute Nacht und begab sich danach in seine Suite. Am folgenden Tag würde er den Gouverneur alleine treffen. Dann konnte man Tacheles reden.
***
Die Reise nach Tyumen war ein Schlag ins Wasser gewesen. Tanja Müller konnte weder ihren Vorgesetzten noch den Beamten im Innenministerium mit neuen Erkenntnissen dienen. Der Verbleib des Plutoniums war nach wie vor nicht bekannt, noch wußte sie zu berichten, wer hinter der Affäre steckte.
Nikolaj Petrovich Visnijakov hätte einiges zum Erhellen der Angelegenheit beitragen können, aber er schwieg. Im Hintergrund allerdings zog er seine Fäden. Die Arbeit freilich überließ er anderen. Regelmäßig sprachen sie bei ihm vor, um ihm Bericht zu erstatten und ihm ihre Erkenntnisse vorzutragen. Wie sie an ihre Informationen gekommen waren, erwähnten sie nicht. Visnijakov wollte es auch gar nicht wissen. Es interessierte ihn nicht.
So entging es ihm zunächst auch, daß ein gewisser Pavel Ruslanowitsch Dobrin, seine Frau Irina und die achtjährige Tochter Svetlana der Skrupellosigkeit, die Visnijakovs Leute bei der Jagd nach Informationen um den Verbleib des prekären Materials an den Tag legten, zum Opfer gefallen waren.
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