Dafür, daß er mutterseelenallein in ein ihm völlig fremdes Land reiste, fühlte er sich erstaunlich gut. Wahrscheinlich war es die Abenteuerlust, die ihm mit seinen knapp sechzehn Jahren innewohnte. Obwohl es ihm alles andere als leicht gefallen war, sich von seinen Freunden und Klassenkameraden zu verabschieden. Wohl wissend, daß dies nicht nur ein Abschied auf Zeit war. Nein, es war ein Abschied für immer. Vermutlich jedenfalls, denn er wußte nicht, ob er jemals wieder in die Stadt in Westsibirien, in der er geboren war, zurückkehren würde.
Seine Eltern hatten sich entschlossen, nach mehr als einhundertundfünfzig Jahren, die die ehemals deutsche Familie jetzt in Rußland wohnte, wieder nach Deutschland zurückzukehren. Das Leben dort war einfach besser. Vermuteten sie jedenfalls.
An den Verhältnissen in seiner Heimat gemessen, ging es der Familie nicht schlecht. Man mochte sie sogar als wohlhabend bezeichnen. Ob die Verhältnisse in Deutschland so waren, wie sie sich das im fernen Sibirien ausmalten, würde sich zeigen. Mikhail hatte keine Vorstellung davon, was ihn dort erwartete und wie es weitergehen würde.
Er kannte niemanden in Deutschland. Wenn es dort überhaupt Verwandte seiner Familie gab, hatte er nie von ihnen gehört, nie jemanden von ihnen getroffen, und er wußte auch nicht, wo einer von ihnen wohnen konnte. Er war völlig auf sich allein gestellt.
Immerhin war er nicht mittellos. Seine Eltern hatten die Ausreise nach Deutschland lange geplant, ein kleines Reihenhaus gekauft und ein Bankkonto eingerichtet, auf dem sich bereits ein ansehnlicher Betrag befand. Ihn selbst hatten sie in einem Internat angemeldet, in dem er leben und zur Schule gehen sollte, bis die Familie nachkommen konnte. Wann das sein würde, wußte er nicht so genau. Es hing davon ab, wann der Vater den passenden Zeitpunkt für gekommen hielt. Irgendwann im nächsten halben Jahr sollte es sein.
Er, Mikhail, sollte darauf jedoch nicht warten müssen. Im kommenden Schuljahr würde er in die erste Oberstufenklasse kommen, und es wäre sicherlich gut, wenn er diese gleich in der Schule besuchen könnte, auf der er auch das Abitur ablegen würde. Also hatten sich seine Eltern entschieden, ihn vorauszuschicken und in einem Internat anzumelden.
Und nun war es eben soweit. Das Schuljahr in seiner alten Schule war zu Ende gegangen, und er war unterwegs nach Deutschland.
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Die Räder des Zuges schlugen unaufhörlich, wenn sie die Spalten überfuhren, an denen die Schienenstücke aneinanderstießen. ‚Klack-klack‘, ‚klack-klack‘, ‚klack-klack‘. Längst hätten Gleise und Gleisbett der Transsibirischen Eisenbahn erneuert werden müssen. Angekündigt war es seit Jahren, Dazu gekommen war es bisher nicht. Also mußten die Züge darauf ihr Tempo drosseln. Hundertzwanzig Kilometer in der Stunde war das Äußerste. Mehr war nicht drin, wollte man nicht riskieren, daß die Wagen entgleisten. In der Regel ging es langsamer voran. Um Viertel nach drei am Nachmittag hatte er den Zug in Tyumen bestiegen. Jetzt wurde es langsam dunkel; einundzwanzig Uhr mochte es sein, vielleicht etwas später, und noch immer waren sie nicht in Ekaterinburg angekommen. Nizhny Novgorod, das frühere Gorki, die verbotene Stadt, Ort der Verbannung des Physikers Andrej Sakharov, morgen, kurz vor der Abendbrotzeit und Moskau-Belorusskaja in der darauffolgenden Nacht gegen zwei Uhr.
‚Klack-klack‘, ‚klack-klack‘, ‚klack-klack‘, weiter und weiter und weiter würde es gehen, bis die Wagen des Zuges in zwei Tagen, von jetzt an gerechnet, im weißrussischen Brest neue Drehgestelle erhalten würden, damit sie auf der schmäleren Spur der europäischen Gleise weiterfahren konnten. Von Brest nach Terespol, Lukov, Warszawa, Poznan, Rzepin, bis zur Ankunft in Berlin-Lichtenberg am Samstag Morgen, nach mehr als dreieinhalbtägiger Fahrt. „Klack-klack“, „klack-klack“, „klack-klack“ und mit jedem „klack-klack“ versank das alte Leben tiefer hinter dem Horizont.
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Tyumen, die reiche Stadt in West-Sibirien, Zentrum der russischen Petroliumindustrie, wo er geboren war und bis jetzt gelebt hatte, in einer schönen Wohnung unten am Fluß Tura, der in jedem der eiskalten Winter zugefroren war und im Sommer, wenn es heiß war, noch bis vor einigen Jahren so erbärmlich gestunken hatte.
Jetzt tat er das nicht mehr. Viel war getan worden, den Fluß sauber zu machen, ebenso wie die Stadt selbst, mit Bäumen an den Straßenseiten der Bürgersteige und vor den endlos langen, endlos hohen, endlos grauen und endlos häßlichen Mietskasernen, um diese wenigstens ein bißchen freundlicher aussehen zu lassen. Blumenrabatten zwischen den Fahrbahnen der großen Hauptstraßen der Stadt mit ihren zwei oder drei Fahrspuren in beiden Richtungen, die den Autofahrern den Verkehrsstau, der sich am frühen Morgen bildete und erst am Abend wieder auflöste, erträglicher machen sollten. Dieser Stau und die Vielzahl der Baukräne im Zentrum, in dem immerfort neue und prächtigere Gebäude entstanden, waren die Zeichen des zunehmenden Wohlstands der Stadt mit ihren knapp sechshunderttausend Einwohnern, der auch die eisigsten Winter mit Temperaturen von minus dreißig Grad nichts von ihrer quirligen Lebendigkeit nehmen konnte.
Wer Beschaulichkeit suchte, mußte hinaus aus der Stadt. Nach Osten, zum Beispiel, ein Stück auf der Hauptstraße Richtung Omsk, nach Bogandynski, dem kleinen Ort, in dem die Großeltern gewohnt hatten. In einem Holzhaus mit Holzschindeln auf dem Dach, in dem ein Ofen in jedem Zimmer mit Holz zu stochen war, um es im Winter warm und behaglich zu haben.
Doch auch hier hatte die Beschaulichkeit ihre Grenzen. Ruhig war es nicht, denn vor dem Dorf lärmten die Lastwagen über die Straße in Richtung Omsk oder von dort, nach Tyumen hinein, und auf der gegenüberliegenden Seite, hinter den sumpfigen Wiesen, auf deren trockengelegten Stücken reiche Menschen aus Tyumen ihre Datschas gebaut hatten, verliefen die Gleise der Transsibirischen Eisenbahn, über die unaufhörlich die Züge ratterten. Endlos lange Güterzüge zumeist, aber auch die bekannten Expreßzüge, die vom Jaroslavler Bahnhof in Moskau abfuhren mit dem Ziel Vladivostok oder Beijing oder in der umgekehrten Richtung unterwegs waren.
Wie oft hatte Mikhail an diesem Bahndamm, jenseits der sumpfigen Wiesen gestanden? Immer, wenn sie die Großeltern besucht hatten, am Wochenende oder an den Feiertagen, zusammen mit seiner kleinen Schwester, die ihn immer begleiten wollte und die dann ganz still neben ihm stand und seine Hand festhielt, ein wenig furchtsam, weil die vorbeifahrenden Züge so schrecklich laut waren.
Das würde es nie mehr geben, weil es das gemütliche, heimelige Holzhaus in Bogandynski nicht mehr gab. Ein schreckliches Feuer hatte es im Winter dahingerafft und mit ihm die Großeltern, die darin zu Tode gekommen waren.
Wenige Wochen später lagen die weinroten Reisepässe der Bundesrepublik Deutschland neben den purpurfarbenen der russischen Föderation auf dem Küchentisch. Pavel Ruslanowitsch Dobrin, Ur-ur-urenkel des Heinrich-Joseph Düber aus Langendreer bei Bochum, der seinem Land vor mehr als einhundertundfünfzig Jahren den Rücken gekehrt hatte, wollte nun den umgekehrten Weg einschlagen.
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Längst war es Nacht geworden. Der Zug hatte die Stadt Perwouralsk am westlichen Ende des Ural passiert und war nun unterwegs nach Kungur und Perm. In dem dunklen Abteil lag Mikhail in seiner Koje und lauschte dem Schlagen der Räder auf den Schienen. Er konnte nicht schlafen.
Wieder erklang ‚Lara’s Theme‘ in seinem Kopf: ‚Somewhere my Love … ‘
Nikolaj Petrovich Visnijakov saß auf einer der Bänke, die im Park am Weg rund um den kleinen See aufgestellt waren und blinzelte in die Sonne. Er trug einen dicken Wintermantel und einen Hut, denn es war kalt an diesem sonnigen Herbsttag. Der Winter schien ungewöhnlich früh zu kommen in diesem Jahr.
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