Visnijakov mochte Anfang sechzig sein, wenn auch das schlohweiße Haar, das unter der Krempe seines Hutes hervorschaute, ihn älter aussehen ließ, und er konnte die Kälte mit den Jahren immer schlechter ertragen. Früher hatten ihm die kalten, sibirischen Winter mit ihren arktischen Temperaturen von mehr als minus dreißig Grad nichts ausgemacht, aber seit ein paar Jahren machte ihm bereits das vergleichsweise milde, europäische Winterklima zu schaffen.
Gedankenverloren erhob er sich von der Parkbank und schlenderte gemächlich zum Eingang des Parks. Dort wartete sein Chauffeur, der die rechte, hintere Tür der gewaltigen, nachtblau lackierten Maybach-Limousine aufhielt. Ein wenig mühsam glitt Visnijakov in die weichen Polster der Rückbank und überließ es dem Chauffeur, die Tür zu schließen.
„Nach Hause?“ fragte der junge Mann, der etwa dreißig Jahre alt sein mochte. Er war von kräftiger Statur, hatte einen rot-braunen Bürstenhaarschnitt und ein grobes Bauerngesicht.
„Da“, antwortete Visnijakov knapp in russischer Sprache, denn der Chauffeur war, ebenso wie er selbst, russischer Abstammung.
Visnijakov lehnte sich zurück, öffnete die Knöpfe seines Mantels und zog den eleganten, weißen Schal, den er um den Hals gewickelt hatte, heraus. Den Hut behielt er auf. Während der Fahrt hielt er die Augen geschlossen. Sie dauerte eine gute Viertelstunde, dann bog der Wagen von der Straße ab auf ein parkähnliches Grundstück, das von einer mehr als drei Meter hohen Mauer begrenzt wurde. Über eine etwa einhundertfünfzig Meter lange Allee gelangte man zum Wohnhaus, das sich mehr wie ein kleines Schloß ausnahm. Der Wagen hielt vor einer großen Freitreppe. Der Chauffeur sprang heraus und riß den Schlag auf.
Visnijakov stieg aus, nickte dem Mann kurz zu und stieg langsam die Stufen zu der gewaltigen, zweiflügligen Eingangstür hinauf. Die Tür stand offen, und die Haushälterin, ganz traditionell in ein schwarzes Kleid mit weißer Schürze gekleidet, eine elegante Erscheinung von etwa Mitte vierzig, erwartete ihn. Er ging an ihr vorbei in die Eingangshalle. Sie schloß die Tür hinter ihm.
Drinnen nahm sie ihm Mantel, Schal und Hut ab und brachte alles zur Garderobe. Er ging weiter in sein Arbeitszimmer. Es lag auf der rechten Seite des Hauses, hatte riesige Ausmaße und war doch nur spärlich möbliert. Die Wände waren mit Kirschbaumholz getäfelt, die Stuckdecke etwa drei Meter hoch. In der Mitte des Raumes lag ein etwa drei mal fünf Meter großer, blaugrundiger Afghan. Darumherum befanden sich eine Sitzgruppe, bestehend aus einem Dreiersofa und zwei Sesseln, die mit senfgelbem Leder bezogen waren, dazwischen ein niedriger, rechteckiger Tisch mit einem goldfarbenen Metallgestell und einer Rauchglasplatte. Weiter gab es einen Konferenztisch mit sechs Stühlen, ebenfalls aus Kirschholz wie die Wandvertäfelung. Die Stühle waren ledergepolstert und mit Armlehnen versehen. Der Schreibtisch mit einer etwa zwei Quadratmeter großen Tischplatte stand schräg im Raum. Dahinter ein hypermoderner Schreibtischstuhl mit einer hohen Rückenlehne, davor zwei Drehsessel gleicher Machart. Im Alkoven an der rechten Längswand standen zwei schwere, ledergepolsterte, englische Ohrensessel, zwischen den Sesseln ein runder Tisch aus poliertem Wurzelholz.
Auf jedem der Tische stand eine Vase aus geschliffenem Kristall mit frischen Schnittblumen darin und ein ebenso geschliffener Aschenbecher. Ansonsten waren die Tische leer, mit Ausnahme des Schreibtisches, auf dem sich neben einer ledernen Schreibunterlage mit passender Stiftschale ein Computermonitor, die zugehörige Tastatur und ein Telephon befanden.
Eine zweiflügelige Schiebetür auf der linken Längsseite des Raumes führte hinüber ins Wohnzimmer. Daneben stand ein großes Sideboard, ebenfalls aus Kirschbaumholz, dessen Oberseite mit einer Rauchglasplatte belegt war, darauf verteilt mehrere Glaskaraffen mit alkoholischen Getränken nebst den dazugehörigen Gläsern. Auf der hinteren Schmalseite des Raumes gelangte man durch eine gläserne Flügeltür hinaus auf die Terrasse, die sich über die gesamte Rückseite des Hauses und etwa sechs Meter in den Garten hinein erstreckte.
Durch zwei weitere, gläserne Flügeltüren kam man von der Terrasse aus ins Wohnzimmer, das zweifellos den größten Raum des Hauses bildete. Mit Ausnahme der gläsernen Rückwand waren alle anderen Wände mit Bücherschränken bestellt, die sich vom Boden bis zur Decke erstreckten und in die auch die Schiebetüren zum Arbeitszimmer, zum Eßzimmer und zur Eingangshalle eingebaut waren. Mehrere Postergarnituren waren über den Raum verteilt, auf unterschiedlich gemusterten Teppichen aus verschiedenen Ländern des Orients. Auch hier, wie schon im Arbeitszimmer, Kristallaschenbecher und Vasen mit frischen Schnittblumen auf jedem der Beistelltische zwischen den Sesseln und vor den Couchen.
Den Raum dominierte ein Konzertflügel, der in der Mitte aufgestellt war und über dem ein ausladender, mit Swarovski-Kristallen bestückter Leuchter von der Decke herab hing.
Das Eßzimmer war etwas kleiner als das Arbeitszimmer, bot jedoch reichlich Platz genug für eine altflämische Eßgruppe mit zwölf Stühlen samt den dazugehörigen Buffets, in denen Geschirr, Besteck und Gläser verwahrt wurden. Die überbreite Schiebetür zwischen Wohn- und Eßzimmer gestattete es in geöffnetem Zustand, beide Räume als Einheit zu nutzen, so daß leicht eine Gesellschaft von mehreren Dutzend Personen darin Platz fand.
Den Rest des Erdgeschosses nahm, neben mehreren Gästetoiletten hinter dem Arbeitszimmer, die großzügig dimensionierte Küche ein, deren Ausstattung es problemlos ermöglichte, mehrgängige Menues für eine den Plätzen im Eßzimmer entsprechende Gesellschaft von zwölf Personen zuzubereiten.
Eine geschwungene Holztreppe and der Wand zu Küche und Eßzimmer führte hinauf in den ersten Stock. Oben gab es acht Gästezimmer, von denen sich jeweils zwei ein Bad teilten und das große Schlafzimmer mit einem eigenen Bad. Unter dem Dach, im zweiten Stock, befanden sich weitere sechs Zimmer und zwei Bäder für das Personal.
Von der weitläufigen Rasenfläche hinter dem Haus hatte man einen direkten Zugang zu dem unter der Terrasse gelegenen Schwimmbad, dessen Glaswand sich vollständig öffnen ließ. Rechts und links daneben führten zwei breite Steintreppen hinauf auf die Terrasse, auf der sich im Sommer mehrere Sitzgruppen befanden, die zu dieser Jahreszeit allerdings bereits abgeräumt war.
***
Nikolaj Petrovich Visnijakov begab sich in sein Arbeitszimmer und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Unaufgefordert servierte die Haushälterin Tee, den er aus feinstem Meißener Porzellan zu sich nahm, süß, mit viel Zucker und einem Tropfen Sahne. Einem silbernen Etui, das er in der rechten Tasche seiner Anzugjacke zu tragen pflegte, entnahm er eine Zigarette, die er mit einem goldenen Dunhill-Feuerzeug, das er stets in der linken Jackentasche verwahrte, anzündete.
Kaum hatte er die Tasse zur Hälfte ausgetrunken und die Zigarette im Aschenbecher ausgedrückt, als die Tür zum Arbeitszimmer erneut geöffnet wurde. Die Haushälterin blieb darin stehen. An ihr vorbei trat ein Mann unbestimmten Alters herein. Er war mittelgroß, untersetzt, mit Glatze, Doppelkinn, einem fleischigen Gesicht und kleinen Schweinsäuglein darin, mit denen er mißtrauisch in die Welt sah. Er trug einen dunkelbraunen Maßanzug feinster Machart, dazu ein beigefarbenes Hemd und eine grüngrundige Krawatte. Die ebenfalls braunen Schuhe waren blank poliert und handgefertigt.
Visnijakov erhob sich hinter seinem Schreibtisch, als der Besucher hereinkam. Er ging ihm entgegen und streckte die Hand aus.
„Herr Staatssekretär, welch eine Überraschung“, begrüßte er den Mann.
Der offensichtlich unangemeldete Besucher machte keine Umstände. Er schüttelte Visnijakovs Hand und sagte dabei: „Ich muß Sie dringend sprechen, Nikolaj Petrovich. Es geht um eine äußerst heikle Angelegenheit.“
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