Sibylle beugte sich darüber und zischte leise. Sie hatte Agathe Müller-Pfuhr geschrieben. Wieder ein Puzzleteil in ihrem Plan, das passte. Ich wünschte, sie wären … Sibylle hob den Kopf. Rosalindes und ihre Blicke trafen sich.
Wird sie antworten?
Ganz kurz zuckten Rosalindes Greifzangen.
Wenige Kilometer stadteinwärts in der Hausmeisterwohnung des Ottoniums fiel in dieser Nacht der Strom aus. Auch die elektrische Wasserbettheizung versagte ihren Dienst. Die gluckernde Flüssigkeit in der Matratze wurde kälter und kälter. Carlo wälzte sich unruhig in den Fluten.
Und träumte üble Sachen.
Dazu kam ein unangenehmer Wind auf. Die Elster drückte sich in einen geschützten Winkel unter dem Dach des Knittelsteiner Burgturms und schimpfte leise.
Stunden später färbten sich der Osthimmel und die Turmspitze blutrot. Es kündigt sich ein prachtvoller Morgen an. Als hätte es diese unheimliche Nacht nie gegeben.
Jo schleuderte die Bettdecke beiseite. Wenn es etwas gab, das sie noch leidenschaftlicher hasste, als mit ihren Cousins Ritter und Burgfräulein zu spielen, dann waren das drei untätige Tage im Bett. Und heute war dazu noch ein ganz besonderer.
Sie sprang aus den Federn, wusch sich und war in Windeseile in ihren Klamotten. Dann raste sie die Wendeltreppe hinunter, dass jedem anderen schwindelig geworden wäre. Im Remter, dem Speisesaal der Burg, saßen sich schon Eduard und Elvira am Frühstückstisch gegenüber. Emma die Köchin verteilte gerade dampfende Dreiminuteneier und duftende Brötchen. Die Tür wurde aufgerissen, und Jo schlitterte herein.
„Morgen zusammen.“
Einen Moment ungläubiges Schweigen. Dann lachte Elvira.
„Sie ist wieder unter den Lebenden!“
Und Emma drückte Jo an ihren Busen. „Wie schön, mein Mädchen. Ich hole dir sofort ein Gedeck.“
Baron Eduard schüttelte sachte das Haupt und sah sie streng an. „Kaum geht ihre Klasse ins Theater, ist meine Tochter wieder gesund.“
Jo schnappte sich ein Brötchen. „Na und?“ Schnitt es auf und schmierte dick braune Nougatpampe auf die Hälften.
Baron Eduard brummte noch irgendwas wie: „Na, Hauptsache die Kraft reicht bis Montag früh zur Mathearbeit.“ Dabei lächelten seine Augen aber, und Jo grinste zurück.
Der Schnee auf den Buchenästen im Breselwald glitzerte in der Wintersonne wie Zucker. Der Bus schlingerte die Serpentinen der Breselbergstraße hinunter. Bei den Schrebergärten bog er in die Ulmer Allee ein. Dann vorbei am Clubhaus des Rosenzüchtervereins Breselblume und gleich hinter dem Kaufhaus Rausch auf den Breselbergring. Jetzt gings halb um das wie im Winterschlaf versunkene Städtchen herum, am Friedhof und der Gärtnerei Zengerling entlang, um das Kloster Sankt Florian bis zum Augsburger Tor.
Hier erwischte Jos Blick durch die Busscheibe die Frau des Bürgermeisters. Agathe stand vor einem Briefkasten und studierte gründlich die Leerungszeiten, als ob die Post dadurch schneller würde. Plötzlich drehte sie sich ruckartig um. Hatte sie die Blicke in ihrem Rücken gespürt? Sie nickte Jo hastig zu, stopfte einen Brief in den dafür vorgesehenen Schlitz, und stapfte Richtung Marktplatz davon. Vielleicht besuchte sie ja ihren Mann. Im Rathaus.
Eine Station weiter hielt der Bus vor dem Breselner Theater. Jo hatte die drei längst entdeckt. Mit einem Satz landete sie auf dem Bürgersteig und rannte auf Lisa, Jan und Freddie zu.
„Vorsicht!“, schrie Freddie, „da kommt die Grippewelle!“
So schnell, wie sich Freddies Nase in einen Schneeball bohrte, konnte er sich gar nicht wegducken. Lisa und Jo klatschten die Hände zusammen, und Jan lag lachend in einer Schneewehe. Zum Glück trat Herr Hagemeier dazwischen, sonst wäre Jan noch gründlich eingeseift worden.
„Schön, dass du wieder dabei bist, Jo“, sagte der Lehrer. Und zu allen Umstehenden: „Ich hab bereits die Karten. Wir können rein.“
Pünktlich um neun betrat Ebeneezer Srooge die Bühne.
„Humbug!“, blaffte er das Publikum an. Genau wie seinen zitternden Angestellten Cratchit. „Alles Humbug!“ Auch sein Neffe Fred und seine Nichte Annie hatten nichts zu Lachen bei dem griesgrämigen Geizkragen. Und jeder hätte ihm ein schlimmes Ende gegönnt. Nur der Geist der Weihnacht … aber das kann ja jeder bei Charles Dickens nachlesen.
Zum Schluss sangen die Schauspieler unterstützt vom Theatermusiker das alte englische Weihnachtslied God rest you merry gentlemen . Schnee (also Theaterschnee) rieselte auf sie herab. Mit mehreren Verbeugungen bedankte sich das Ensemble für den herzlichen Applaus. Vorhang zu.
Und Vorhang wieder auf. Der Schauspieler im Kostüm des geizigen Scrooge schritt zur Rampe und hielt seine Hände in die Luft. Langsam senkte er die Arme und im Publikum wurde es still.
„Es freut uns sehr, dass es euch gefallen hat.“
„Das war Klasse!“, krähte ein Knirps aus der dritten Reihe.
Der Schauspieler lächelte. „Aber es kommt noch besser.“ Er spazierte ein paar Meter nach rechts. „Die Dramaturgen der Breselner Kammerspiele haben sich etwas ganz Besonderes für euch ausgedacht. Begrüßen wir mit Applaus Chris Rosenmüller und Jörn Kuhl!“
Die zweihundert Kinder im Saal klatschten, johlten und pfiffen. Eine zierliche junge Frau und ein angegrauter Fuchs sprangen auf die Bühne. Scrooge senkte wieder mit seinen Händen den Geräuschpegel.
Die junge Frau sprach nicht sehr laut. „Ich heiße Chris und das ist mein Kollege Jörn“, sagte sie, und es wurde mucksmäuschenstill. „Danke für die Begrüßung. Ich hoffe, euch gefällt die Sache, die wir euch jetzt vorschlagen wollen, ebenso gut. Wir planen nämlich etwas, das auch für unser Theater Neuland bedeutet, und wofür wir die Hilfe der Breselner Schüler benötigen – und eventuell auch der Lehrer.“
Der graue Jörn entrollte ein meterhohes Plakat. Oben quer stand schreiendrot:
SCHULTHEATERWOCHE
Darunter hatte eine andere Handschrift ergänzt:
Realschule Kaufbeuren, 6b
Hauptschule Bresel, 8a
Grundschule Ulm, 4d
„Eine Schultheaterwoche“, erklärte Jörn. „Das bedeutet, wir suchen Klassen, die bereit sind, ein Stück einzustudieren, und es in der letzten Februarwoche in unserem Theater aufzuführen.“
Die junge Frau, die Chris genannt wurde, deutete auf das Plakat. „Wie ihr seht, haben sich schon drei Klassen aus unterschiedlichen Schulen und Städten angemeldet. Wir würden uns über doppelt so viele Teilnehmer freuen. Mindestens.“
„Stücke gibt's genug“, behauptete Jörn Kuhl. „Wer Interesse hat, braucht bloß in der Theater-Dramaturgie vorbeizuschauen.“
„Oder …“, Chris machte eine große einladende Handbewegung zu den Schülern, „oder jemand hat eine Idee für ein eigenes Stück.“
„Eure Lehrer haben Informationsmaterial erhalten und werden das mit euch besprechen. Und wir stehen natürlich jederzeit bei allen Fragen und Problemen zur Verfügung. Mit Rat und Tat.“
Mit bühnenerprobter Eleganz schob Ebeneezer Scrooge die beiden Dramaturgen zur Seite. „Und ich kann euch versichern, es ist ein großartiges Gefühl, auf der Bühne zu stehen und von Maik Bröckl ins rechte Licht gerückt zu werden.“
Die Kinder sahen noch so eben, wie er über ihre Köpfe hinweg auf die hintere Wand des Theaters deutete, wo der Beleuchter in seiner Kabine saß. Dann ging schlagartig das Licht aus.
„Maik!“, schrie Scrooge entsetzt.
Schon zuckten Lichtblitze durch den Saal. Unheimliche Musik kam aus versteckten Boxen und schwoll an zu einer dröhnenden Sinfonie. Wie von Geisterhand tanzten flackernde Projektionen durch die Kulissen, und irrwitziges Scheinwerfergeflimmer tauchte die Bühne in alle Regenbogenfarben. Einige Kinder kreischten, aber die meisten bekamen vor Staunen den Mund nicht mehr zu.
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