Teresa Kovacs / Koku G. Nonoa
Postdramatic Theatre as transcultural Theatre
A transdisciplinary approach
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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ePub-ISBN 978-3-8233-0159-2
Teresa Kovacs (University of Michigan) & Koku G. Nonoa (Universität Innsbruck)
Dem vorliegenden Band liegt die Frage zugrunde, inwieweit das Paradigma des postdramatischen Theaters geeignet ist, um eine transkulturelle Theaterwissenschaft zu begründen bzw. um Theaterarbeiten analytisch zu beschreiben, die bewusst nationale, kulturelle sowie fachliche Grenzen überschreiten und die alternative Modelle erproben, um Gemeinschaft herzustellen. Der Band geht von der Beobachtung des Theaterwissenschaftlers Hans-Thies Lehmann aus, der in seiner 1999 publizierten Studie Postdramatisches Theater konstatierte, dass postdramatische Theaterformen und Inszenierungspraktiken nicht so sehr an Repräsentation, sondern viel eher an der Herstellung der Erfahrung des Realen interessiert sind. Dies spiegelt sich in der oftmals provokanten, köperzentrierten Präsenz der Künstler_innen sowie der Unmittelbarkeit der gemeinsamen Erfahrung von Akteur_innen und Publikum wieder.1
Lehmanns Fokussierung auf theatrale und performative Praktiken erlaubt es, Auf- und Ausführungen in den Blick zu nehmen, ohne einem Text und damit wiederum einem Theater der nationalen Sprachen, das immer erst in andere Kulturräume übersetzt werden muss, zu großes Gewicht zu verleihen. Darüber hinaus wird es möglich, zeitgenössische Spielformen aus historischer Perspektive zu diskutieren, ohne sie ausschließlich auf das literaturzentrierte Theater zu beziehen.
Das postdramatische Theater bearbeitet theatrale und performative Praktiken heterogener kultureller Kontexte ohne sie hierarchisch zu organisieren. Auf diese Weise durchkreuzt es simplifizierende Unterscheidungen von „Eigenem“ und „Fremdem“, aber auch geschlossene Konzepte von Tradition und Traditionsaneignung und stellt stattdessen komplexere Relationen her. Lehmann selbst schlägt eine „stärker transkulturell orientierte Betrachtungsweise“ vor. Er betont, dass „das dramatische Theater Europas eine Sonderentwicklung“ sei, weshalb ihm „die Relativierung des spezifisch europäischen Theatermodells durch transkulturell orientierte Forschung überaus wichtig“2 erscheine. Der Band schlägt daher vor, das postdramatische Theater auch als transkulturelles Theater im Sinne Günther Heegs aufzufassen.3 Die Beiträge des Bandes greifen diese Engführung von Postdramatischem und Transkulturellem auf und entwickeln davon ausgehend und darüber hinausgehend Methoden und Analyseverfahren gegenwärtiger Theaterformen und Inszenierungen.
Die Reflexion des Postdramatischen aus der Perspektive des Transkulturellen und umgekehrt lässt beide Konzepte konkreter fassen und verdeutlicht, welch vielfältige analytische Möglichkeiten im Dialog beider Konzepte entstehen. Während das Konzept des postdramatischen Theaters aus der aktuellen theaterwissenschaftlichen Forschung kaum noch wegzudenken ist, findet man den Begriff des transkulturellen Theaters bislang weit seltener in der bestehenden Forschungsliteratur aufgegriffen. Was beide Konzepte allerdings teilen, ist die Unschärfe ihrer Definition. „Transkulturelles Theater“ wird oftmals synonym zu verwandten Konzepten wie inter- und multikulturelles Theater verwendet. Das Konzept des postdramatischen Theaters wiederum hat im deutschsprachigen Raum mittlerweile ein paradoxes Eigenleben erfahren, es hat sich nicht nur aufgrund üblicher Einordnungstendenzen in eine Kunsttradition zu einem Synonym des Regietheaters und der Postmoderne entwickelt, sondern es wird auch verkürzt als „Theater gegen den Text“ oder als den Neoliberalismus stützende Spielform definiert.4
Daher scheint am Beginn eines Bandes, der das Postdramatische für die transkulturelle Untersuchung zeitgenössischer und internationaler Arbeiten stark machen will, eine nochmalige historische Kontextualisierung von Relevanz zu sein: Der Begriff des Postdramatischen wurde in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft erstmals von Andrzej Wirth 1987 aufgegriffen, um die damals aktuellsten Formen von Theater zu charakterisieren (allerdings in der Schreibweise „post-dramatisch“). Wirths Beschäftigung mit Theaterformen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist deutlich geprägt von Jean-François Lyotards frühem Ansatz des performativen Theaters. Dieser führte den Begriff der „affirmativen Ästhetik“ ein, um neue Theaterformen zu beschreiben, die durch die „Unabhängigkeit, die Gleichzeitigkeit der Töne/Geräusche, der Wörter, der Körper-Figuren, der Bilder“ gekennzeichnet sind, und die die „Zeichenbeziehung und deren Kluft“ abschaffen.5 Wirths Anliegen war es, mit dem Begriff „post-dramatisch“ zunächst einen blinden Fleck im theaterwissenschaftlichen Diskurs zu markieren und die Aufmerksamkeit auf all jene Formen zu lenken, die aufgrund ihrer Abweichung von konventionellen Genres bis dahin kaum rezipiert wurden. Wirth entwickelte seinen Ansatz ausgehend von prominenten Theaterarbeiten von u.a. Robert Wilson, Pina Bausch, Richard Foreman und George Tabori. Er betonte in verschiedenen Publikationen im Kontext der Debatte um die Postmoderne, dass sich das Theater in eine Richtung verändern würde, die die Dekonstruktion der Dichotomie Drama – Theater zur Folge hat.
Hans-Thies Lehmann griff den Begriff „postdramatisch“ von Wirth auf. Er verwendete ihn erstmals 1991, um in seinen Vorbemerkungen zur Publikation Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie „Formen des neuen und neuesten Theaters der (Post-)Moderne“ zu beschreiben, die „jenseits des Dramas“6 angesiedelt sind. Mit seiner Publikation Postdramatisches Theater legte er schließlich eine erste umfangreiche Studie vor, die den Anspruch hatte, bestehende Forschungsansätze zusammenzuführen und Beschreibungskategorien für zeitgenössische Spiel- und Inszenierungsformen zu finden.
Obwohl das Konzept des postdramatischen Theaters in der deutschsprachigen Forschung fest etabliert ist, wurde es teilweise bereits ad acta gelegt bzw. stellen einige Theaterwissenschaflter_innen in Frage, ob er für das Nachdenken über zeitgenössische Formen und Praktiken des Theaters überhaupt noch brauchbar ist.7 Nicht nur zeigen die in diesem Band versammelten Beiträge, dass das Konzept des Postdramatischen immer noch aktuell ist, sondern vielmehr plädiert der Band für einen bewussten „Umweg“ zu diesem Konzept in der deutschsprachigen Forschung aus einer kritischen, gegenwärtigen Perspektive, anstatt vorschnell einzig die „Überwindung“ des Konzepts zu proklamieren. Diesem Umweg, so möchten wir argumentieren, wohnt großes Potential inne, um einen die Grenzen des deutschsprachigen Raums überschreitenden fachlichen Diskurs über Theater zu führen. Nachdem nämlich das Konzept lange Zeit als ein „deutsches Phänomen“ diskutiert und zurecht auch problematisiert wurde, erfährt es aktuell international immer größere Aufmerksamkeit und kann daher als eine Basis für einen umfangreichen, internationalen Dialog dienen. Zugleich erlaubt es der historische und kulturübergreifende Ansatz des postdramatischen Theaters, in verschiedenen Wissenschaftslandschaften produktiv weitergedacht und mit anderen bestehenden Methoden und Theorien in Verbindung gebracht zu werden. Auch Künstler_innen außerhalb des deutschsprachigen bzw. europäischen Raums beziehen sich mehr und mehr auf dieses Konzept und ordnen ihre Arbeiten im Bereich des postdramatischen Theaters ein.8
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