In all diesen Produktionen findet eine Selbstermächtigung zumindest insofern statt, als die Agierenden die durchaus theatralen Routinen, die sie sich in Alltag und Beruf angewöhnt haben, auf der Bühne zeigen, ohne dass sie – wie sonst üblich – durch professionelles Schauspiel repräsentiert werden (vorausgesetzt, sie hätten überhaupt eine Chance, dass ihr Leben literarisch bearbeitet und dieses Stück dann auch inszeniert wird). Die andere Ermächtigung betrifft aber die Zuschauenden, die ihrerseits einen stärkeren Bezug zu Aufführungen entwickeln können, in denen ihnen nicht nur professionell perfektionierte Kunstleistungen präsentiert werden, sondern auch die Erfahrungen ihres eigenen Alltags vorkommen, so dass sie sich selbst als zumindest potentiell ebenso berechtigte Akteurinnen und Akteure begreifen können.
Wie die Anwendung von Jacotots Experiment mit der intellektuellen Gleichheit auf den Austausch von Fähigkeiten und Kompetenzen zwischen allen Beteiligten einer Aufführung zeigt, liegt die Möglichkeit zur Emanzipation vielleicht gerade in einem singulären Plural-Sein (Nancy), in einer individuellen Gleichheit, die immer wieder mit der Fortdauer einer sozialen, kulturellen und ökonomischen Ungleichheit konfrontiert ist. Emanzipation wäre demnach auch kein einmaliger, von außen definierter Akt, wie es der Begriff der Ermächtigung noch suggeriert, sondern ein unablässiger Prozess. Ein Theater der Transkulturalität schaffen hieße, diesen Prozess in jeder Richtung zu ermöglichen, ohne ihn bestimmten Bedingungen oder Zwecken unterzuordnen, also auch nicht einer Repräsentation kultureller Identität, vielmehr ihn zuzulassen als offenes Experiment. Solche Experimente nicht nur für ein begrenztes Publikum durchzuführen, sondern mit einer breiteren Öffentlichkeit, war seit jeher ein Anliegen von Theaterschaffenden, die damit zugleich die Grenzen ihrer Kultur durchlässig zu machen versuchten. Dieser Aspekt soll nun abschließend noch etwas vertieft werden, da er zugleich produktive Formen für einen Umgang mit dem Fremden eröffnet, dieses nicht als Bedrohung von Kultur, sondern als deren elementare Voraussetzung und Entwicklungsbedingung erweist.
3. Überschreitung des Theaters
Transkulturalität als Perspektive ermöglicht und erfordert, Theater quer zur Fixierung von Identitäten und Gewissheiten zu denken, und Theater nicht nur als künstlerische Praxis zu verstehen, sondern in seinen Wechselwirkungen mit kulturellen, politischen und ökonomischen Kontexten.1 Theater birgt daher immer schon die Möglichkeit zu seiner eigenen Überschreitung, im Auszug aus etablierten Räumen und Institutionen ebenso wie mit der Überwindung konventioneller Auffassungen von Schauspiel als Abbild von Wirklichkeit und Ausdruck kultureller Identität. Überschreitung wäre hier auch in Annäherung an die von Michel Foucault in Anschluss an Georges Bataille formulierte Erfahrung einer existenziellen Infragestellung des Subjekts zu verstehen, das mit den Grenzen seines Seins (im Rausch, in der Sexualität, in der Religion, im Wahnsinn etc.) spielt anstatt sie bloß überwinden zu wollen. Diese Art von Überschreitung „durchbricht eine Linie […], die sich hinter ihr sogleich wieder in einer Welle verschließt, die kaum eine Erinnerung zulässt und dann von neuem zurückweicht bis an den Horizont des Unüberschreitbaren“2. Zumindest da, wo sich postdramatisches Theater der Performance und dem Happening nähert, arbeitet es – als ein Theater der Überschreitung – mit einer ähnlichen Dynamik der radikalen Verausgabung. Der Impuls zur Überschreitung betrifft dann aber nicht nur das Drama, sondern strukturell auch das damit verknüpfte Menschenbild und schließlich Kultur insgesamt, sofern diese noch im Sinne von Identität, Nationalität, stabiler Zugehörigkeit aufgefasst wird. Gleichzeitig werden auch die Räume und Erscheinungsweisen des Publikums in Frage gestellt, einer quantitativen und qualitativen Entgrenzung ausgesetzt. Dieser Prozess kann schließlich das Theater selber erfassen, in seiner Grundbedeutung als Schauplatz ebenso wie in dem davon abgeleiteten Bezug auf szenische und performative Praktiken aller Art. Überschreitung des Theaters hieße dabei sowohl die Überwindung von Sparten, Gattungen und Disziplinen, deren Entwicklung ohnehin nur von ihrer andauernden Wechselwirkung her zu begreifen ist, wie auch die Entgrenzung des Schauplatzes, der weit über die konventionellen Bühnengebäude hinaus als Situation zwischen Agierenden und Zuschauenden überall entstehen kann.
Nicht von ungefähr war die Idee des Nationaltheaters, eng verbunden mit der Idee einer nationalen Literatur und Kultur, bei ihrer allmählichen Realisierung im „langen“ 19. Jahrhundert auch geprägt durch die zunehmende Abgrenzung theatraler und szenischer Praktiken von der sie umgebenden gesellschaftlichen Realität. Die Errungenschaften des illusionär abgeschlossenen, als Guckkasten perfektionierten Kunstraumes wirken bis heute nach im Dispositiv des dramatischen und zugleich auf die baulich fixierte Trennung vom Publikum angewiesenen Theaters. Daher können umgekehrt die Überschreitung dieses immer noch dominanten Theatertyps und der Auszug aus oder genauer: die Rückkehr in öffentliche Räume zugleich eine Erweiterung des gesellschaftlichen und kulturellen Horizonts von Theater bewirken. Die damit absehbare erneute Erweiterung des Spektrums theatraler Praktiken geht jedenfalls über die Ablösung vom Drama hinaus. Transkulturelles Theater wäre mithin der weitere Begriff, dessen elementares Kriterium einer Begegnung von Agierenden und Zuschauenden nicht länger determiniert ist von den spezifischen, kulturell geprägten Institutionen der Sprache, der Literatur und insgesamt einer jeweiligen Ästhetik und Didaktik. All diese Faktoren können inzwischen auch innerhalb der um Öffnung bemühten Theaterinstitutionen auf neue Weise in den Blick genommen und selbst zum Thema und Material theatraler Prozesse werden, nicht zuletzt das Verhältnis von Kunst und Alltag. So lassen sich theatrale Praktiken in anthropologischer Perspektive verstehen als eine Kommunikation von Menschen untereinander ebenso wie mit verschiedenen nichtmenschlichen Wesen, die nicht nur adressiert werden sondern zugleich selbst agieren können (insbesondere Göttinnen und Götter, Tiere, Puppen, Maschinen, Avatare und künstliche Intelligenzen), zugleich aber als eine unablässige Konfrontation mit Erfahrungen von Fremdheit. Anstatt bloß, wie noch im Europa des 19. Jahrhunderts, zur Begründung national-kultureller Identität zu dienen, ermöglichen solche Praktiken eine transkulturelle Überschreitung, die in der gegenwärtigen Weltlage auch weitaus notwendiger erscheint als der Rückzug auf ein vermeintlich „Eigenes“.
Beispiele dafür, wie die Überschreitung des konventionellen Bühnengebäudes zugleich einhergehen kann mit der Erweiterung des Theaters auf Horizonte anderer Kulturen im Kontext globalisierter Ökonomien, Kriege und Migrationsströme, bieten wiederum Arbeiten von Rimini Protokoll, vor allem Call Cutta, Cargo Sofia oder auch Situation Rooms . In der Produktion Remote X , die 2013 als Remote Berlin anfing und weltweit in über 30 Städten neu erarbeitet wurde, folgen ca. 50 Teilnehmende einer synthetischen Stimme, die ihnen die urbane Umgebung wie auch ihr eigenes Verhalten fremd erscheinen lässt. Dabei findet die Bewegung stets in der Gruppe statt, die sich gelegentlich aufteilt und von der Stimme öfters als eine „Herde“ oder „Horde“ adressiert wird. Wie in früheren Audiowalks bleibt es den Teilnehmenden weitgehend überlassen, ob sie die angesagten, „ferngesteuerten“ Bewegungen ausführen oder nur den anderen dabei zusehen. Das Spiel mit der Möglichkeit, den Spielort zu verlassen oder zu verlagern, erweist sich in der aktuellen Theater-, Performance- und Tanzpraxis aber nicht etwa als ein endgültiger Abschied von der Institution und den Gebäuden des konventionellen Theaters, eher als deren Erweiterung. Oft sind es kooperative Projekte, die den Ort des Theaters in der Stadt neu zu bestimmen suchen und dabei zugleich theatrale Aktionen im urbanen Raum ermöglichen.3 Dies führt inzwischen gerade für die Frage nach dem Öffentlichen als einer gemeinsamen Sphäre zunehmend auf Erfahrungen von Fremdheit, auf die Begegnung einander unbekannter Individuen, Gruppen und Kulturen.
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