Wilfred Gerber
Theater! Ende! Vorhang!
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Ende! Vorhang!
Impressum neobooks
Willem Granna saß in der dritten Reihe. Er wartete gemeinsam mit den Kindern, den geduldigen Müttern und den gequälten Vätern auf den Beginn des Spiels.
Seit frühester Kindheit hatte er sich nicht der Faszination der in wundersames Licht getauchten kleinen Bühne entziehen können. Im Augenblick vergaß er alles um sich herum und stand im Bann des magischen Orts da vorne. Der dritte Gong war gerade verklungen. Der rote, samtene Vorhang ruckte und gab den Blick auf die bis ins kleinste Detail gemalten Kulissen frei. Zur linken Seite begann der gespenstische Tannenwald, der nicht enden wollte. Der hohe, glänzende Berg beherrschte die rechte, die Mitte der sonnenbeschienene Sandplatz. Im Hintergrund waren die Silhouetten der Stadt und der über ihr thronenden Königsburg zu erahnen. Die leichte, einnehmende Musik ertönte, die Bühne blieb leer, keine Marionette war zu sehen.
Sie war auch noch verlassen, als sich das Licht veränderte. Es wechselte von strahlendem Weiß zu unheimlichem Rot.
Grannas Augen weiteten sich, es zog ihn fort. Er glaubte, über den Köpfen der Kinder, der Mütter und der Väter frei zu schweben, war sich aber nicht sicher. Das Dunkle, Schwarze, so schwer, als hätte es Form und Dichte angenommen, seinen Flug zu bremsen. Kein Licht drang vor, der Mund war weit geöffnet für den gedachten Schrei, doch blieb er stumm. Was geschieht mit mir? Granna war verwirrt. Ich bin leicht wie eine Feder, der Lufthauch hat die Macht, mich zu treiben wohin er will. Ohne Richtung war das Schweben. Doch dann zog es ihn mit aller Kraft zur Bühne hin. Groß und größer wurde sie. Der Berg stieß an den Himmel. Als die Füße den Boden leicht berührten, spürte er sie nicht, Bewegung war unmöglich. Er wollte, zwang sich. Die Arme hingen bleiern in den Schultern.
Die Füße jetzt fest am Boden, doch fingen die Knie an zu zittern. Willenlos zusammensacken wollte er, doch das Unbekannte hielt ihn fest. Der Mund war weit geöffnet. Der nur gedachte Schrei verhallte dumpf im Kopf, doch ließ er ihn gleich wieder sehen, verschwommen zwar, doch reichte es, um Nahes zu erkennen. Der Berg ist mein Schicksal! schoss es ihm durch die Gedanken. Was soll das? Ich bin nicht hier! verwarf er gleich die Drohung. Ich sitze unter all den anderen, schlafe, träume nur. Nichts davon ist wahr. Erwache ich, löst sich der Albtraum auf.
Der Ruck ging durch den Körper. Die Arme hoben sich von Zauberhand, die Beine machten die ersten leichten Schritte. Ich bin nicht hier, es ist der Traum, aus dem ich gleich erwache.
Verzweiflung trieb ihn, dem Unbekannten zu trotzen, doch Granna half kein Wollen. Das andere war stark, ließ keine Wahl. Die eben noch gelebte Gegenwart verlor im Augenblick den Sinn, doch schufen die Gedanken gleich den neuen.
Sollte er sich fügen? Es hinnehmen, warten? Nein, mein freier Wille wird mich retten! machte er sich Mut.
Der Wald kam immer näher. Der letzte Ausweg seines Ichs, sich mit der Puppe zu verbinden, war gleich missglückt, durch langes Schweigen. Die Schlachten, das Morden, Hauen, Stechen waren vergessen, vorbei, für den Soldaten, auch für Granna, gefangen in Gedanken, noch vor dem Anfang längst zu Ende und begraben. Sein Ich vermochte nicht im Jetzt, mit dem der Puppe eins zu werden, doch ging es schon in ihrem Kopf gefährlich krumme Wege durch die Zeit.
Der Trampelpfad lenkte die schwebenden Schritte mitten hinein in den düsteren Tannenwald. Grannas Wehren war vergeblich. Er hörte die fremde Stimme singen: „All das Kämpfen ist zu Ende, frank und frei ist mir die Welt, ich will wandern durch die Auen, ich bin frei und habe Geld.“ Sie verstummte.
Der Wald begann zu rauschen. Die Wipfel der Tannen schlugen wild und stark zusammen. Der gewaltige Sturm brach die Stämme mit schwachen Wurzeln ohne Halt und Kraft. Dann war er vorbei, alles ruhig, als hätte er nie getobt.
Was machen sie mit mir? Die Stille wurde zur Bedrohung. Ich bin kein Steppenwolf, und das ist nicht das Magische Theater. Der Traum ist aus. Jetzt schnell erwacht! befahl er sich.
Die Beine liefen immer weiter in den Wald, hin zu der alten Hökerin. Bewegungslos unter dem gestürzten Baum mitten auf dem Weg schrie sie jämmerlich um Hilfe.
Er zögerte keinen Augenblick, zweifelte nicht, weder als Soldat noch als Willem Granna. Schnell waren der starke Ast in der Hand und der Stamm gehebelt. Die Alte, von der drückenden Last befreit, kroch langsam unter ihr hervor. „Wartet, ich helfe Euch auf!“, hörte er die Stimme aus dem Mund der Puppe. Er beugte sich zur Hökerin, zog sie mit fremden Händen auf die Beine.
Jetzt würde alles gut werden, hoffte Granna. Sie endlich Klarheit schaffen, ihn aus dem Spiel entlassen. Er gehörte nicht hierher. Nein, sein Platz war draußen vor der Bühne bei den anderen.
„Ich danke Euch, Herr Soldat.“ Die alte Frau stand wieder auf den Beinen. „Ohne Euch wäre es mir schlecht ergangen, denn auf diesem Weg habe ich in all der Zeit außer Euch noch keinen anderen Menschen getroffen. Jämmerlich wäre ich zu Tode gekommen. Wenn Ihr mir noch helft, Herr Soldat, meine Habe in die Kiepe zu laden, werde ich Euch fürstlich belohnen.“
„Lasst gut sein, liebe Frau, auch ohne Lohn bin ich Euch gern behilflich.“ Seine Ratlosigkeit konnte Granna nicht vor ihr verbergen. „Doch sagt, wen seht Ihr in mir? Ich sollte nicht auf dieser Bühne sein.“
„Was redet Ihr für sonderbares Zeug. Ihr ward zur rechten Zeit am rechten Ort, mein tapferer Retter.“ Sie beugte sich mühsam, suchte auf zitternden Beinen die weit verstreuten Hökerwaren zusammen und stapelte sie bedächtig in die mannshohe Kiepe. Ihre argwöhnischen Blicke streiften dabei immer wieder den merkwürdigen Soldaten. Hat er im letzten Krieg zu viel auf seinen Kopf bekommen und muss jetzt so seltsam reden? fragte sich die Alte. Was soll´s, wer weiß, was ohne ihn aus mir geworden wäre.
„Setzt Euch nur auf den Baumstamm, gute Frau, ruht Euch aus, ich lade den Rest in Eure Kiepe.“
Die fremde Stimme aus dem Mund des Soldaten, hörte Willem Granna verwundert, klang nach der kurzen Zeit auf der Bühne fast schon wie seine eigene. Das kann ja heiter werden. Aber noch sind es meine Gedanken. Ich bin frei, Herr meiner selbst. Solange ich kann, werde ich mich gegen alles wehren, das droht, mich zu beherrschen.
Das Abbild ließ ihn erstarren. Das fremde Gesicht mit dem hohen Soldatenhut auf dem Kopf erschreckte ihn, dass der Spiegel, den er in die Kiepe der Alten legen wollte, ihm beinahe aus der zitternden Hand geglitten wäre.
„Was habt Ihr nur? Die ganze Zeit benehmt Ihr Euch schon seltsam. Das da im Spiegel ist Euer Gesicht, doch eine gründliche Rasur könnte es wohl vertragen. Eure Wangen sind eingefallen, als hättet Ihr lange keine gute Mahlzeit mehr genossen. Kommt her zu mir, hier ist genau das Richtige für Euch.“ Sie zog aus dem Seitenfach der Kiepe das weiße Tuch und hielt es dem alten Soldaten hin. „Das ist Euer Lohn“, sagte sie leise. Ihr freundliches Lächeln erwärmte Grannas Herz. „Haltet es in Ehren. Jedes Mal, wenn Ihr es aufschlagt, wird es sich decken wie von Zauberhand. Nie mehr müsst Ihr hungern oder dursten.“
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