Granna, in der Rolle des alten Soldaten, wollte gerade seinen ungläubigen Dank murmeln, da war die Alte auf einem Schlag verschwunden, vom Erdboden verschluckt, mitsamt der Kiepe und den eben noch im weiten Kreis verstreuten Waren. Nur der gestürzte Baum mitten auf dem Weg blieb als Beweis, dass es kein Bühnentraum gewesen war. Warum bin ich im Spiel? Ich will zurück in meinen Kopf! Granna stutzte. Was war das? Mein Wille hat die Beine angehoben. Ja, ich habe sie bewegt. Die Freude währte kurz. Der gewaltige Ruck schüttelte den Körper. Er musste springen, springen, immer weiter springen.
„In diesem Spiel bist du Josef!“ Nur einen flüchtigen Moment hallten die Worte in seinen Gedanken wider.
Der Mund öffnete sich, das Lied wollte gesungen sein. Erst wehrte sich Granna, doch sah er schnell die Vergeblichkeit seines Widerstandes ein. Wenn ich es nicht verhindern kann, gab er sich geschlagen, soll diesmal wenigstens ein Wort von mir dabei sein! befahl er den Gedanken. „All das Kämpfen ist zu Ende. Frank und frei ist mir die Welt. Ich muss wandern durch die Auen. Ich bin frei und hab noch Geld.“ Das habe ich gesungen, dieses -muss- ist von mir, auch das –noch- vor dem Geld, freute er sich. Mein freier Wille ist stark, dass ich mit ihm das Spiel zum guten Ende führen kann, um wieder frank und frei zu werden, wie der alte Soldat so schön singt. Die Gedanken gehören mir. Mit ihnen müsste es doch gelingen, diesen Körper zu meinem eigenen zu machen? Dann ist nicht alles verloren. Wird in der Puppenwelt nach meiner Meinung, meinem Können verlangt, in gewissen Grenzen, versteht sich, kann das Stück nur gewinnen, schauspielerisch und strukturell. Ich bin weder ein schlechter Darsteller noch ein mittelmäßiger Dramaturg! sagten sich Willem Grannas Gedanken, wehrten sich nicht mehr gegen das Unbekannte. Fröhlich sprang er mit großen Schritten, die Sonne war endlich durch die Tannen gedrungen, auf dem schmalen Weg hin zur kleinen Lichtung. Der Bauernjunge im hohen Gras, den Kopf auf dem prächtigen Sattel gebettet, einen Grashalm im Mund, stahl dem lieben Gott in beneidenswerter Gelassenheit den lieben langen Tag.
„Einen guten Morgen wünsche ich dem jungen Herrn!“, rief Granna, als alter Soldat, ihm fröhlich zu. Seine neue Einstellung zur gegenwärtigen Situation im Kopf der Marionette machte es für ihn leichter, weiterzuspielen. Kaum spürte er die Schnüre, obwohl sie ihn immer noch behutsam führten.
„Ja, ja, auch einen schönen Tag“, grummelte der Bursche, wollte er nicht gestört werden. Schon gar nicht von einem dahergelaufenen, alten Soldaten. Er löste den Blick nicht von den Wolken, den wunderschönen Wolken, den Wolken, die vorüberzogen.
„Darf ich mich zu dir setzen?“, fragte Granna ganz im Spiel.
„Tu das, wenn du es nicht lassen kannst. Platz ist hier genug. Er sollte für uns beide reichen“, gab der Bursche zurück, immer noch im Bann der Wolken.
Dann wollen wir mal sehen, ob die alte Hökerin mir einen Bären aufgebunden hat? dachte Granna, setzte sich zu dem Burschen, schlug das Tischtuch auf. Wie erwartet rührte sich nichts, doch dann standen plötzlich wie von Zauberhand Tiegel, Pfannen und Töpfe auf dem weißen Leinen, gefüllt mit allen Köstlichkeiten, die sich nur denken ließen. Das frische Brot duftete verführerisch, der Wein schäumte in den Gläsern, Teller, Messer und Gabeln luden zum Festmahl. Der Bauernbursche konnte sich nicht sattsehen, an den Speisen, dem Wein, den Schalen voller Obst, dass ihm die Augen übergingen. Granna musste ihn nicht lange bitten, bis er mit dem gesunden Appetit des Landmannes zugriff, nach jedem kräftigen Bissen und herzhaften Schluck, mit sich und der Welt zufrieden, leise vor sich hin stöhnte. So etwas Gutes und Erlesenes hat der Kerl in seinem ganzen Leben noch nie auf dem Teller gehabt! sagte sich Granna und schwieg.
Ich glaube, mich zu erinnern, ja, ich weiß, welches Märchen hier gegeben wird. Granna beobachtete unablässig den Bauernburschen, der sich bei der Schlemmerei nicht stören ließ. Voller Gier alles in sich hineinstopfte, mit allen Sinnen das opulente Mahl genoss. Er wollte lange nicht glauben, dass die herrlichen Speisen, den köstlichen Wein das einfache Tischtuch aus dem Nichts hervorgezaubert hatte.
Das Märchen will mir den Schwarzen Peter zuspielen. Ich soll ohne Skrupel den armen Tropf um seinen Sattel bringen, weil mich vielleicht ein großes Ziel erwartet? zweifelte Granna. Der Zweck heiligt die Mittel. Ich bin der Klügere, werde gewinnen, bleibe ruhig und verrate mich nicht vor der Zeit. Ich darf nicht wissen, dass der Sattel fliegen kann, muss, will ich aus dem Spiel unbeschadet herauskommen, ihn mir ergaunern. Brauche ich den Wundersattel nach vollendeter Tat nicht mehr, gebe ich ihn dem Bauerntölpel zurück, beruhigte er sein Gewissen, wartete gespannt auf die günstige Gelegenheit für den Raub. Es dauerte nicht lange. „Wir haben miteinander fürstlich gespeist, kennen aber nicht unsere Namen. Ich heiße Marius“, stellte sich der Bauernbursche vor. „Das Haus meiner Eltern steht im Weiler Klein-Heide hier ganz in der Nähe“, der donnernde Rülpser beendete abrupt die Vorstellung.
„Mein Name ist Josef“, hörte sich Granna sprechen. „Es hat mich gefreut, dich hier getroffen zu haben.“
Aus heiterem Himmel strafften sich die Schnüre. Dann ging alles ganz schnell. Der Bauernbursche hatte Gefallen am Tischtuch gefunden, bot Josef den Tausch an, denn er wollte seinen fliegenden Sattel liebend gern gegen das immer gedeckte Wundertuch hergeben. Auf den Probeflug bestand Granna. Als er sich frei wie der Vogel in die Luft erhob, war der vereinbarte Tausch vergessen. Er verschwand mit Sattel und Tuch auf Nimmerwiedersehen. Die wütenden Schreie Marius´ verklangen in der luftigen Höhe. Ohne Reue sah Granna mit den Augen des alten Soldaten geradeaus, nach vorn gerichtet waren sie, dem nächsten Ziel entgegen.
Es ist nur für das Spiel, sagte er sich. Bin ich erst halber König, wird es mir an nichts mangeln. Dann will und werde ich dem armen Trottel das Tischtuch zurückgeben. Er wollte im Augenblick glauben, dass er seinen Vorsatz wahr machen würde, wehrte sich nicht, als das Spiel mit rasantem Tempo voranschritt, der Lösung näher kam.
Auf der anderen Bühnenseite hatte sich Granna oft und mit großer Freude der Schauspielerei hingegeben. Dann verschmolz sein Wesen mit dem der Rolle so stark, dass er in ihr lebte und handelte. Die Wirklichkeit außerhalb der Bühne verlor, wie jetzt, für ihn die Bedeutung. Er sei der alte Soldat Josef, in Ehren, mit dem ihm zustehenden Sold versehen, aus der kämpfenden Truppe entlassen, gerade auf der Wanderschaft zum neuen Zuhause, das er irgendwo, irgendwann zu finden hoffte, redete sich Willem Granna ein. Nur so würde es ihm gelingen, die Rolle im Glasberg glaubhaft zu spielen und in der vorgegebenen Zeit zu beenden, um seine Gedanken aus Josefs Kopf zu lösen. Ich muss zurück in die Stadt, sagte er sich, nur dort kann sich das Schicksal erfüllen. Immer höher flog der Sattel. Er lenkte ihn mit leichtem Druck der Schenkel, dass bald die Zinnen der Mauern in Sicht kamen. Er landete, versteckt vor den aufmerksamen Blicken der Wachen, hinter dem dichten Gebüsch am Straßenrand. Er vergewisserte sich, dass ihn niemand gesehen hatte, schulterte den Sattel, durchschritt unbehelligt das Südtor.
Die Kulisse auf der Bühne drehte sich im Halbkreis, gab das Innere der Stadt frei. Im neuen Raum bewegte sich Granna als alter Soldat Josef sicher und selbstverständlich wie der Fisch im Wasser. Aus seinen Erinnerungen wusste er, dazu brauchte er kein Textbuch, was von ihm jetzt erwartet wurde. Er sah die Sinnlosigkeit jeder Abwehr endgültig ein, spielte die Rolle mit seinem ganzen Können und allen auf den unterschiedlichsten Bühnen erworbenen Erfahrungen. Trotzdem quälten ihn von Zeit zu Zeit die eigenen Gedanken, zwickten das Gewissen. Diese Märchen sind doch alle gleich, sagte er sich auf dem Weg zum Marktplatz. Nur dort würde er erfahren, wie das Spiel weiter voranzutreiben wäre. Doch diesmal sollte der Held nicht für Güte und Hilfsbereitschaft belohnt, sondern für seine Kälte und gnadenlose Verschlagenheit bestraft werden! beschlich ihn die verhängnisvolle Ahnung. Na, dann! wehrte er sie ab, lege ich die Rolle auch so an, dass alle Facetten des Charakters klar und deutlich zu erkennen sind. Schauspielkunst ist gefordert, Moral nicht gefragt.
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