Ruth machte wieder: »Pst.«
»Das weiß man anscheinend noch nicht. Soweit bekannt ist, hat er noch gar keine Forderungen gestellt. Ein Psychologe der Universität Cambridge wurde informiert und Foleys Eltern ebenso. Die können vielleicht sogar mehr erreichen als dieser Psychologe. Der Laden ist umstellt und im Moment tut sich nichts. Wir hören halt nur zu und versuchen, über die wenigen Funksprüche unsere Informationen zu beziehen und uns ein Bild zu machen.«
Louis hatte sich in der Zwischenzeit eine Pfeife angezündet und strich mit dem Mundstück über seinen feinen Oberlippenbart. Der Rauch störte Ruth ungemein. Hätte sie jedoch etwas gesagt, wäre sie beim Lauschen unterbrochen worden, obwohl es im Moment nur statisches Rauschen zu hören gab, aber sie wollte auf keinen Fall etwas verpassen. Louis lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und begann zu überlegen.
Ricky Foley? Bewaffnet? In Coles Laden? Geiseln? In Ely? Warum?
Er zog an seiner Pfeife, hielt den Rauch einen Moment in sich gefangen und entließ ihn langsam, wobei seine blaugrauen Augen hinter den Schwaden nahezu verschwanden.
Richard Foley war das einzige Kind im Hause seiner Eltern und wurde somit von diesen dementsprechend fürsorglich behandelt und wuchs fast verhätschelt auf. Das Geschäft seiner Eltern lief gut. Da es in dem kleinen Städtchen nicht viele Friseure gab, fehlte die ganz große Konkurrenz. Ricky war nicht vorbestraft, ja nicht einmal bei der örtlichen Polizei negativ aufgefallen. Er hatte seit einiger Zeit eine feste Freundin und keine Geldprobleme, zumindest keine, von denen man wusste. An Drogenprobleme dachte Louis noch nicht einmal, so abwegig war der Gedanke.
Jetzt war Ricky bewaffnet. Natürlich hatten einige der Landwirte rings um Ely Flinten auf ihren Höfen, aber die Foleys hatten ein Friseurgeschäft. Hatte Ricky die Waffe in der Nähe gestohlen? Hatte er sie sich in einer anderen Stadt besorgt oder woher kam sie? Im Grunde gab es für diesen Punkt viele Möglichkeiten. Wichtig war im Augenblick auch nur, dass er eine Waffe hatte. Und was machte er damit in Coles Lebensmittelladen? Erpressung? Die Familie Cole? Ihr Laden ging zwar ähnlich gut wie der von Rickys Eltern, aber viel blieb am Monatsende nicht übrig, da die fünfköpfige Kinderschar das Zurücklegen eines Sparpfundes verhinderte. Viel gäbe es dort nicht zu holen. Ging es um einen der Kunden? Wer wusste schon, wer sich im Moment im Laden aufhielt? Aber Louis fiel niemand aus der Umgebung ein, für den sich dieser ganze Aufwand gelohnt hätte. Vielleicht ein Streit mit jemandem? Aber bei diesem Ausmaß musste es sich schon um eine größere Familienfehde handeln. Ricky musste doch klar sein, dass sich nun Nichts mehr für ihn zum Guten wenden konnte.
Das Rauschen im Funkgerät wurde von einem Knacken unterbrochen. Ruth und Betty sahen sich neugierig an, Louis nahm die Pfeife aus dem Mund, lehnte sich vor und alle drei horchten gebannt. Louis gespannter, als er sich selbst eingestehen mochte. Niemand sagte etwas, trotzdem machte Ruth wieder: »Pst.«
»Leitstelle Cambridge, von Cambridge-1.«
»Ja, hier Leitstelle Cambridge.«
»Wir sind am Marktplatz von Ely eingetroffen und erkunden erst einmal die Lage. Wie heißt gleich noch mal der Einsatzleiter vor Ort?«
»Donalds.«
»Verstanden. Wir melden uns dann wieder.«
»Ja, ist gut.« Dann ein Knacken und erneut Rauschen.
Ruth und Betty sahen Louis an, als ob er mehr gehört hätte, als sie selbst. Er zuckte mit den Schultern, lehnte sich wieder zurück und zog an seiner Pfeife. Sie war erkaltet und er musste sie aufs Neue entzünden. »Das war wohl die Verstärkung«, dachte er. Vielleicht kam man ja einen Schritt weiter, wenn man wusste, wer die anderen Geiseln waren.
War eine der Geiseln der Schlüssel? Aber in Ely konnte man sich untereinander solche Spannungen gar nicht vorstellen, die eine derartige Reaktion, wie die von Richard Foley, hervorrufen würde, geschweige denn, dass man sie verstehen würde.
Man konnte zwar in Ely nicht jeden kennen, aber die Atmosphäre im Ort war bisher ruhig und familiär. Wäre man vor hundert Jahren durch Ely gekommen und jetzt wieder, hätte man bis auf winzige Ausnahmen keine großartigen Veränderungen feststellen können. Ringsherum betrieb man Landwirtschaft. Hin und wieder gingen die Gutsbesitzer, die sich hier für den Adel hielten, auf die Jagd, aber ansonsten war der Jahrmarkt, der zum Sommerbeginn für drei Tage in Ely Station machte, noch das Aufregendste. An diesen drei Tagen war alljährlich der ganze Ort auf den Beinen und man vergnügte sich in Fahrgeschäften und beim Tanz und stärkte sich an einem der zahlreichen Essenstände. Es gab Kaffee und Kuchen für die Damen, Grillfleisch für den großen Hunger, saftig und mit grobem Brot, und das Ale floss in Strömen. Zu vorgerückter Stunde wurde dann schon mal ein Zwist mit den Fäusten ausgetragen. Dies war meist schon der Höhepunkt des Jahres in Ely. Aber bis dahin waren es noch knapp zwei Monate.
Louis zog an seiner Pfeife. Warum mochte Ricky Foley sein Leben aufs Spiel setzen, oder zumindest seine Zukunft? Wer wusste tatsächlich, was in Rickys Kopf vor sich ging? Vielleicht wurde sein Plan durch Langeweile gezeugt und aus Unzufriedenheit geboren. Hier geschah so gut wie nie etwas Aufregendes. Vielleicht wich dumpfe Lethargie der Wut, lähmender Alltagstrott einer Explosion in Form eines 19-jährigen Jungen, der wahrscheinlich als Einziger die große Preisfrage beantworten konnte.
Ruth und Betty hatten in der Zwischenzeit angefangen, die wildesten Vermutungen anzustellen, was am Marktplatz los sein mochte, aber Louis hatte sie, ganz in seine Überlegungen versunken, gar nicht wahrgenommen. Auch nicht das erneute Knacken im Funk, wohl aber Ruths schneidendes »Pst.«
»Leitstelle Cambridge, von Cambridge-1.«
»Hier Leitstelle Cambridge.«
»Lage wie folgt: Ein junger Mann, identifiziert als Richard Foley, 19 Jahre, wohnhaft in Ely, bewaffnet, hält in einem Ladenlokal gewaltsam fünf Personen fest, alles Erwachsene, von denen bisher lediglich die Besitzerin einwandfrei ausgemacht werden konnte, Veronica Cole. Versuche, Kontakt zu Richard Foley aufzunehmen, waren negativ. So wissen wir noch nicht, was er eigentlich will. In diesem Moment trifft der Psychologe ein. Wir werden weiterhin probieren, mit Foley Verbindung aufzunehmen, und die Geiseln erst einmal über Verhandlungen frei zu bekommen. Ich melde mich wieder. Cambridge-1 Ende.«
»Hier Leitstelle Cambridge. Verstanden.« Ein Knacken, Rauschen.
Ruth war enttäuscht. »Was soll das? Das wissen wir doch schon.«
Louis gab zu bedenken: »Wir schon, aber die nächst höhere Dienststelle in Cambridge noch nicht. Das ist hier kein Hörspiel, das für dich aufgeführt wird.«
»Ich will aber wissen, was jetzt passiert.« Ruth war zornig und enttäuscht.
Ein Telefon klingelte, Ruths Apparat, und mit niedergeschlagener Stimme meldete sie sich: »Polizei Ely…Ja…Nein…Einen Moment bitte.« Sie reichte Louis den Hörer.
»Für mich?«, war er erstaunt. »Wer ist denn dran?«
Ruth zischte: »Mach`s leise und mach`s kurz.«
Betty hatte langsam von Allem die Nase voll und wollte zur Toilette.
Louis stand auf, nahm den Hörer und führte ein knappes Gespräch mit William Finney, der es nicht glauben mochte, dass ihm schon wieder eine Ziege abhanden gekommen und bis jetzt nicht wieder aufgetaucht war. Er vermutete eine Verschwörung gegen sich, hatte aber keine bestimmten Personen in Verdacht.
»Nein, Mr. Finney«, versuchte Louis, ihn zu vertrösten, »es gibt noch nichts Neues wegen Ihrer Ziege. Sie müssen sich noch etwas gedulden. Wir haben im Augenblick andere Sorgen. Sobald wir Neuigkeiten haben, sind Sie der Erste, der sie erfährt…Ja, ganz bestimmt…Auf Wiederhören.«
Louis reichte Ruth, die sich aber nicht rührte, den Hörer hinüber. So legte er selbst auf, setzte sich wieder, zog einen Abfallkorb zu sich heran und begann die Reste aus seiner erneut erkalteten Pfeife zu kratzen.
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