Und dann musste ich rennen. Das hatte ich nicht erwartet. Rechts rum, links rum, vor, zurück; und wutsch, rutschte ich über die Wiese. Dabei traf ich den Federball so schief, dass er aufs Dach flog.
„Hoppla“, rief Mama. „Wo ist er hin?“
„In die Dachrinne gekullert.“
„Merk dir, wo er liegt! Ich hole die Leiter.“
Mama verschwand kurz im Schuppen und kehrte mit der alten Stehleiter zurück. Aber sie schüttelte schnell den Kopf. „Dafür bin ich zu klein. Kannst du Papa holen?“
Ich lunzte durch die offene Terrassentür und rief laut ins Haus hinein. Im gleichen Augenblick tippte er mir von hinten auf die Schulter.
„Suchst du jemanden?“
Ich zuckte zusammen. „Mann, Papa!“
Manchmal war er gruseliger als ein Gespenst, das kannst du mir glauben! (Schließlich habe ich beim Kampf um die Apfelwiese selbst welche getroffen.) Aber wenigstens war Papa auch hilfsbereit, was ihm diesmal Schmutz und viel Arbeit bescherte.
„Dein Ball, Tina…!“ rief er säuerlich von oben und warf mir den Federball herunter. „Ich muss hier oben erst mal sauber machen.“
„Warum? Was ist denn da?“, fragte ich.
„Zeig ich dir gleich.“ Papa ging sich Handschuhe anziehen und brachte eine Kehrschaufel mit. Aus der Dachrinne zog er einen dicken Klumpen mit Federn und verzog das Gesicht. „Eine tote Taube!“, rief er. „Sie hat einen Ring am Fuß. Das arme Ding.“
Mir tat die Taube auch leid. Ich ging hinauf in Leos Zimmer und erzählte ihr davon. Sie lag in ihr Buch versunken auf dem Bett und hörte kaum zu. Erst als sie verstand, dass ich mit Mama Badminton gespielt hatte, schaute sie auf: „Hättest du das nicht gleich sagen können? Ich will auch spielen!“ Schon war sie auf der Treppe. Die tote Taube hatte mit Tom Sawyer nicht mithalten können.
Zu meinem Glück wünschte sich Mama eine Spielpause, sonst hätte mich Leo aus dem Spiel gekickt. So aber blieb ihr nichts anderes übrig, als gegen mich zu spielen.
„Wetten, ich bin besser als du!“, rief sie sofort. Doch Leo spielte längst nicht so stark wie Mama.
„Da hast du!“, rief ich bei einem Schmetterball. In diesem Moment kam Papa von der Taubenbeerdigung zurück und wandte sich unseren Fußballtoren zu.
„Was machst du da?“, fragte Leo.
„Ich repariere die Tornetze. Ihr habt alles zerschossen.“
„Du hast ja selbst so geballert!“, widersprach ich.
Papa lächelte ertappt. „Du musst es ja keinem sagen!“ Ich lächelte zurück. Tatsächlich habe ich bis heute mit niemandem darüber gesprochen. Aber ich habe es jetzt in diese Geschichte geschrieben. Und ich schreibe auch auf, dass Papa die Netze kaputt lassen sollte.
„Wir spielen sowieso nicht mehr“, rief Leo ihm nach. Aber Papa reparierte sie trotzdem und bekam davon Lust auf ein Spiel.
„Jetzt kommt schon!“, bat er. „Nur ein kleiner Kick!“
„Nein!“ Ich drückte ihm Leos Badmintonschläger in die Hand. Sie hatte sich bereits verkrümelt.
Schule Schluss – na endlich!
Wenn man vor dem letzten Schultag totalen Stuss träumt, werden die Ferien dann langweilig oder klasse?
Im Traum schlenderte ich über die Wiese hinterm Haus und wunderte mich, dass die Fußballtore so verrostet waren. Plötzlich erschien ein Wesen auf einer der Torstangen. Ein Fellknäuel war es, mit dem Schnabel einer Taube. Unter seinem Gewicht knackte die Stange bedenklich und wippte vor meiner Nase auf und nieder. Dabei blähte sich das Fellwesen wie ein Luftballon auf, und die Stange bog sich immer tiefer. Trotzdem blieb das Ding sitzen, klappte ein Auge zu und wieder auf. Dann verwandelte es sich von grau zu gelb und plumpste auf den Boden wie ein übergroßer Pfirsich. Daran dachte ich, weil es tatsächlich zwei rote Bäckchen bekommen hatte. Aber die verschwanden sehr schnell, denn das Knäuel rollte gegen meine Fußspitze und sogleich erklang ein pfeifendes Geräusch. So wie die Luft verschwand auch alle Farbe aus ihm. Das Fell fiel ab, als wäre es ein Lappen, und übrig blieb ein weißer, eingedellter Fußball. Der blinzelte mich nochmal an, riss den Schnabel auf und lachte mich schallend aus. Dabei wuchsen ihm zwei Taubenflügel, auf denen er in die Luft sprang und davon flog.
Kopfschüttelnd wachte ich auf. Was für ein Quatsch!
Im Ahornbaum vor meinem Fenster krächzte eine Elster. Vielleicht hatte ihr lauter Gesang mich aufgeweckt, doch so müde wie ich war, fand ich ihr Lied einfach schrecklich. Eine glatte Sechs in Musik gab ich ihr dafür, doppelt so viel, wie ich heute selbst auf dem Zeugnis haben würde.
Naja, eine Drei konnte ich verkraften. Der Rest würde besser aussehen. Vor allem in Deutsch war ich gut, das kannst du dir sicher vorstellen. Schließlich habe ich schon zwei große Geschichten geschrieben: Zum einen, wie wir die Enkelsteingespenster auf der Apfelwiese trafen und sie von ihrem Fluch erlösten. Und zum Zweiten, wie wir dort einen Fußballplatz bauten, um auch selbst in der Liga zu spielen.
Apropos Fußball und Sport! In Sport hatte ich natürlich eine glatte Eins. Frau Schnett hätte mir sogar eine Eins Plus gegeben, wenn das gegangen wäre.
„Buh!“ rief ich zur Elster hinüber, da nahm sie Reißaus. Jetzt konnte ich frühstücken und mir mein Zeugnis abholen gehen.
„Ich hab doch ‘ne Eins in Mathe?“, staunte ich meine Klassenlehrerin an.
„Aber ganz knapp!“, meinte Frau Brandok. „Und wohin geht’s bei dir in den Urlaub?“
Bei so viel Glück erzählte ich das gern.
„Wir fahren an die Ostsee. Meine Mama hat Karten für die Störtebeker-Festspiele gekauft.“
Frau Brandoks Augen glänzten. „Warst du schon mal dort? Die Bühne ist riesig, mit echten Segelschiffen und Feuerwerk zum Schluss!“
„Krass! Das sehe ich mir schon mal im Internet an.“
Lachend klopfte mir Frau Brandok auf die Schulter. „Lass dich ruhig überraschen! Und fahrt mal nach Stralsund, ins Ozeaneum, wenn es sich ergibt!“ Dann stutzte sie plötzlich. „Ihr verpasst doch nicht die Weltmeisterschaft, oder?“
Gute Frage, dachte ich und zuckte die Achseln. Unsere deutschen Frauen hatten gerade angefangen, um die Fußballkrone zu kämpfen, auch in Berlin und in Dresden, also quasi um die Ecke. Eigentlich ein Riesending, aber im Augenblick schoben Leo und ich nur Frust über Fußball.
„Ich war zum Eröffnungsspiel im Stadion“, erklärte Frau Brandok stolz. „Hast du es dir angesehen?“
Ja, hatte ich, aber nur weil Deutschland spielte. Der knappe Sieg gegen Kanada hatte mich nicht fröhlicher gestimmt. Und dass wir Nigeria nochmal acht zu null vom Platz fegen würden wie im letzten Testspiel, glaubte ich sowieso nicht. Trotzdem erzählte ich Leo auf dem Heimweg, was Frau Brandok erlebt hatte.
„Willst du zufällig ein bisschen kicken?“, fragte ich. Aber Leo mochte nicht, und es war auch nicht so wichtig.
„Ich hab‘ jetzt frei“, sagte sie, verzog sich in ihr Zimmer und ließ sich nicht mehr blicken. Ich setzte mich an den Schreibtisch, um meinen Notendurchschnitt auszurechnen. Bald würde Mama heim kommen und stolz auf mich sein.
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