Er kam jedoch nicht mehr dazu, Wolff seine Sorgen mitzuteilen. Bevor er überhaupt etwas sagen konnte, durchbrach plötzlich eine laute Stimme die geschäftige Stille, die sich bei der Suche in den Räumen ausgebreitet hatte. Vor Schreck ließ Christian das Buch fallen. Es fiel mit einem dumpfen Aufprall zurück auf den Boden. In der Tür stand eine unbekannte Person, in einen schwarzen Mantel gehüllt, mit Sonnenbrille und einem tief in das Gesicht gezogenen schwarzen Hut. Christian blickte direkt in den glänzenden Lauf einer Pistole. Mit überraschtem Blick tauchte Wolff hinter dem Schreibtisch auf. Er stand in direkter Linie zum Eindringling. „Hände hoch!“, kommandierte der Unbekannte. Seine Stimme klang merkwürdig, wie absichtlich verstellt. „Wer sind Sie? Was machen Sie hier?“
„Das gleiche könnte ich Sie fragen“, erwiderte Wolff bissig. Seine anfängliche Überraschung war seiner üblichen Arroganz gewichen. Er nickte in Richtung der Waffe: „Was soll das?“, fragte er knurrig. „Sie wissen hoffentlich, dass es strafbar ist, Polizisten zu bedrohen?“ Trotzdem streckte er vorsichtig seine offenen Handflächen nach vorne.
„Polizei?“, murmelte der Unbekannte. Christian glaubte so etwas wie Verblüffung aus seiner Stimme herauszuhören. Die Waffe begann ein wenig zu zittern, als der Fremde sie zwischen Christian und Wolff hin und her schwenkte. „Und wo ist der andere?“, kreischte er.
Die Antwort folgte auf dem Fuße. „Hier!“, polterte Glattbach hinter dem Eindringling. Bevor dieser auf die plötzliche Bedrohung reagieren konnte, hatte der Polizist den Arm mit der Waffe in einer ruckartigen Bewegung nach hinten gerissen und die Pistole aus der Hand geschlagen. Sie fiel auf den Teppich. Brutal stieß Glattbach den Schwarzgekleideten gegen die Wand, den rechten Arm schmerzhaft nach hinten gebogen. „So, Freundchen“, knurrte Glattbach, „das war keine gute Idee.“
„Lassen Sie mich los!“, quiekte der Unbekannte weinerlich. „Bitte!“ Irritiert keuchte Christian auf. Die Stimme klang auf einmal völlig anders. Vorher wirkte sie dunkel, angestrengt, jetzt erklang sie auf einmal mindestens eine Oktave höher. „Moment mal“, grummelte Glattbach erstaunt und riss den schwarzen Hut vom Kopf des Übeltäters. Langes, braunes Haar fiel dem Unbekannten auf die Schultern. Korrektur, der Unbekannten. „Eine Frau!“, keuchte er. Überrascht lockerte er seinen vormals festen, unbarmherzigen Griff.
„Mit einem Feuerzeug als Waffe“, grummelte Wolff, mit leicht verblüfftem Unterton in der Stimme. Er hielt demonstrativ die Pistole in die Luft, die dem Eindringling aus der Hand gefallen war. An der Pistolenmündung brannte eine kleine Flamme. „ Ein Spielzeug! Was hat das zu bedeuten?“
„Bitte lassen Sie mich los, Sie tun mir weh“, weinte die Frau. Wolff nickte Glattbach kurz zu, worauf dieser die Frau tatsächlich losließ. „Aber keine Sperenzchen“, grummelte er, als er sich mit finsterem Blick einen Schritt von ihr entfernte.
„Danke“, flüsterte die Frau und knetete mit schmerzverzerrtem Gesicht ihr Handgelenk, das rote Spuren von Glattbachs Umklammerung aufwies. „Wer sind Sie?“, nahm Wolff seinen Faden wieder auf und musterte die Unbekannte kritisch.
Sie sah verloren aus, als sie antwortete. Christian versuchte, sie einzuschätzen. Sie war etwa Anfang dreißig und wirkte kaum wie ein gefährlicher Einbrecher, geschweige denn wie ein Mörder. Ihre langen, braunen Haare fielen ihr sanft ins Gesicht. Sie schob etwas trotzig ihre Unterlippe nach vorne, wenn sie sprach. Eine einzelne Träne glitt sachte ihre Wange hinab. Spätestens jetzt wäre es Christian sehr schwer gefallen, sie mit einem Mord, oder mit irgendeiner anderen Gewalttat in Verbindung zu bringen. So wie sie vor den drei Männern stand, wirkte sie unglaublich verletzlich und zart.
„Katharina“, erwiderte sie leise.
Wolff schüttelte ungnädig den Kopf. „Katharina Wer ?“, fragte er genervt. Christian hatte Mitleid mit der Frau. Er selbst hatte am eigenen Leib erfahren, wie unangenehm Wolff werden konnte, wenn er nicht die Antworten erhielt, nach denen er suchte. Es war nicht zu übersehen, dass sie sich zusammenreißen musste, um Wolffs starrem Blick standhalten zu können. Trotzdem reckte sie kämpferisch ihr Kinn nach vorne, als sie antwortete: „Mein Name ist Katharina Bergmann“, flüsterte sie und ergänzte beim Anblick von Christians erstauntem Blick: „Wolfgang Bergmanns Tochter.“
(14) 14. Oktober 1307, irgendwo im Atlantik
Die Sonne schien gleißend auf den regennassen Strand und strafte die Erinnerungen an das Unwetter von letzter Nacht Lügen. Es war kaum vorstellbar, dass noch vor zwei Stunden ein Sturm gewütet hatte, der an Vernichtungswillen jedes menschliche Heer in den Schatten gestellt hatte. Fraubert stand am Strand und blickte auf das Meer hinaus. Dieses Mal hätte das Meer fast gesiegt. Jeder Kapitän wusste, dass das Meer ein launisches Wesen war. Ein Wesen, das, sobald entfesselt, nicht mehr zu bändigen war. Viele tapfere Männer des Ordens hatten ihr Leben nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern ebenfalls auf dem Kampfplatz gelassen, den die Menschen Ozean riefen. Ihnen war dieses Schicksal in der letzten Nacht glücklicherweise erspart geblieben.
Dabei hatte Fraubert immer geahnt, dass dies irgendwann auch sein Schicksal werden würde. Er hatte diese ungewisse Zukunft akzeptiert, wenn er sich den Launen der Natur hatte ausliefern müssen. Aber in einer Stunde, wo sein Erfolg so wichtig war wie nie zuvor, zürnte er dem Meer, ihn verraten zu haben.
Die Beziehung zwischen Meer und Kapitän glich dem Gelübde des heiligen Stands der Ehe. Sie teilten gute, aber auch schlechte Zeiten. Im Großen und Ganzen basierte die Beziehung auf gegenseitigem Vertrauen. Der Seemann übergab sein Leben für die Dauer der Reise dem Meer, für das Recht, es passieren zu dürfen. Im Gegenzug vertraute er dafür auf seine sichere Rückkehr. Dieses Mal hatte es sich allerdings als äußerst knapp erwiesen. Der Sturm hatte schlimm gewütet und sie schwer getroffen. Glücklicherweise hatten sie kein Schiff verloren, aber Schäden davongetragen, die sie um Tage zurückwerfen würden. Zum Glück waren unter der Besatzung auch erfahrene Schiffsbauer und Handwerker, die mit tatkräftiger Unterstützung der verbleibenden Mannschaft unter Hochdruck an den Reparaturen arbeiteten.
Doch mit jedem Tag, den sie hier auf dem Trockenen lagen, riskierten sie ihre erfolgreiche Flucht, die ihnen nur unter großen Opfern gelungen war. Die Würdenträger des Ordens rund um den Großmeister hatten ihre Flucht überhaupt erst ermöglicht. Ihr Opfer hatte die Schergen des Königs von den Ordensbrüdern geringeren Ranges abgelenkt. Die Warnung hatte sie erst vor ein paar Tagen erreicht. Sie hatten in aller Eile die Evakuierung der Besitztümer in Frankreich in die Wege leiten müssen. Der Großkomtur hatte den Ordensschatz vollständig verladen lassen. Nur wenige waren zurückgeblieben, da ihre Namen in der französischen Gesellschaft bekannt und die Haftbefehle auf ihre Köpfe ausgestellt waren. Und während der König sie verhaftete, konnten die verbleibenden, öffentlich kaum bekannten Ordensmitglieder entfliehen. Das Opfer von wenigen zur Rettung vieler.
Dadurch, dass viele von ihnen dem unbarmherzigen Zugriff des Königs hatten entkommen können, stellte die Mannschaft der 18 Schiffe einen repräsentativen Querschnitt durch die Ordensstruktur dar. Der Orden hatte sich in vielen Bereichen betätigt, beschäftigte Architekten, Bauleute, Handwerker, Winzer, Kürschner, Weber; Leute in allen Berufsgruppen. In einer Situation wie dieser stellte sich das als Glückgriff heraus. Andernfalls hätte ihnen kaum das Fachpersonal zur Verfügung gestanden, dieser Misere zu entgehen.
Nicht alle waren mit ihnen über das Meer geflohen. Viele hatten ihr Glück über den Landweg versucht, inkognito selbstverständlich, um in freundlich gesinnten Ländern Unterschlupf in den Besitzungen des Ordens zu suchen. Eine Zukunft in Frankreich würde es für den Orden mit Sicherheit nicht mehr geben. Ein Umstand, der Fraubert in der Seele schmerzte. Nicht nur der Verlust ihres geistigen und weltlichen Zentrums, sondern insbesondere die Verhaftung ihrer wichtigsten Würdenträger traf den Orden schwer. Sie würden lange brauchen, um sich von diesem Schlag zu erholen. Unbewusst ballte Fraubert seine Faust, als er grimmigen Blickes in die Richtung starrte, in der er Frankreich vermutete. Der französische König würde für seine Arroganz bezahlen, dafür würde er sorgen.
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