Der Poststempel des einfachen, zerknitterten Briefumschlages trug das Datum von gestern. Bergmann musste ihn kurz vor seinem Tod aufgegeben haben. Vermutlich hatte er nicht das Risiko eingehen wollen, ihn persönlich mit sich zu führen. Wobei, rückblickend hatten sich seine Ängste, jemand könnte ihm den Schlüssel oder das Siegel abnehmen, offensichtlich als berechtigt erwiesen. Sein unglückliches Ende ließ diesen Schluss auf jeden Fall zu. Wahrscheinlich hatte er geplant, bei ihrem Treffen weitere Instruktionen zu geben, was es mit dem Schlüssel auf sich hatte. Nur war es nie zu diesem Treffen gekommen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Bergmann bereits tot auf der Straße gelegen, eiskalt dahingemeuchelt von einem unbekannten Täter. Hatte der Täter wirklich diesen Schlüssel gesucht? War für diesen Schlüssel ein Mensch brutal ermordet worden? Oder hatte der Täter mit dem Siegel bereits gefunden, was er gesucht hatte?
Eine leichte Gänsehaut kündigte sich mit einem deutlichen Kribbeln auf Christians Rücken an. Während er in seinem Fernsehsessel saß und die Nachrichten auf sich einrieseln ließ, fühlte er die Präsenz des Schlüssels in seinem Nacken bedrohlich pochen, in einer unerträglichen Art und Weise. Die kleinen, feinen Härchen an seinem Hals hatten sich warnend aufgestellt, als würde er unbewusst eine unterschwellige, dunkle Energie wahrnehmen, die pulsierend von dem Schlüssel ausging. Christian war nicht abergläubisch, aber er glaubte daran, dass Orte oder Gegenstände negative Energie absorbieren konnten. Vielleicht gab es keine Geister, aber Christian war überzeugt davon, dass Gräueltaten wie der Mord an Bergmann eine Art Abdruck in der Realität hinterließen, der zwar nicht sichtbar, aber zumindest im Unterbewusstsein spürbar war.
Die logische Konsequenz wäre gewesen, den Schlüssel bei der Polizei abzugeben und die Affäre um Bergmann zu vergessen; dem Bösen die Tür zu seinem Leben zu verschließen. Christian war sich allerdings nicht sicher, ob er diesen Schritt noch gehen konnte. Er hatte zu viel gesehen, zu viel gehört. Er wusste nicht, wer die Drahtzieher hinter Bergmanns Tod waren, aber er spürte das brennende Verlangen, dem Geheimnis um den Schlüssel selbst auf den Grund zu gehen. Dieser Schlüssel musste ihn zu dem Templersiegel führen, das war der einzige logische Schluss aus den Vorfällen. Und Bergmanns Ermordung bewies, dass mindestens eine weitere Partei an die Echtheit des Siegels glaubte. Und bereit war, dafür über Leichen zu gehen. Vielleicht war diese Hinterlassenschaft der Tempelritter der Hinweis auf etwas Großes, auf eine atemberaubende Entdeckung. Der Beweis, dass die Tempelritter nach ihrer Auflösung weiterexistiert hatten. Und damit war das Siegel vielleicht ein Anhaltspunkt auf den Verbleib ihres Vermögens oder der sagenumwobenen Reliquien, die sie den Legenden zufolge dem harten Boden unter dem Tempelberg in einer Jahre andauernden Suche abgerungen und gehütet hatten wie ihr eigenes Leben. Der heilige Gral. Die Bundeslade . Gegenstände, für die so manche Menschen über Leichen gehen würden. Christian musste nur aufpassen, dass es nicht die eigene war. Er schluckte schwer. Es widersprach seiner Natur, sich wissentlich in Gefahr zu begeben, allerdings hatte er sein Leben lang auf einen Fund wie diesen gewartet. Und wider besseres Wissens war er nicht in der Lage, diese Gelegenheit verstreichen zu lassen.
Alleine würde er allerdings nicht sonderlich weit kommen. Er hatte keinerlei Anhaltspunkte, wo er mit seiner Suche beginnen sollte. Der Schlüssel konnte zu jedem Schloss in der Stadt passen. Schließfächer am Bahnhof, Bankschließfächer, Schränke. Die Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen. Die Stadt war groß, und er war nur ein einzelner Mann. Zudem lief irgendwo ein wahnsinniger Mörder herum, der wahrscheinlich nicht zögern würde, Christian für diesen Schlüssel eiskalt zu ermorden.
Unsicher strich Christian über den Hörer des Telefons. Im Moment fiel ihm nur eine Person ein, an die er sich wenden konnte. Ein Umstand, der ihm nicht sonderlich behagte. Wolff war leider die einzige Möglichkeit für ihn, im Spiel zu bleiben. Außerdem war er sich nicht sicher, ob er sich nicht doch strafbar machte, wenn er ein Beweisstück wie den Schlüssel einfach unterschlug. Wolff mochte anderer Meinung sein, aber Christian war zeitlebens ein gesetzestreuer Bürger gewesen. Und er wollte ungern mit dieser bewährten Tradition brechen.
Er seufzte resignierend. Widerwillig wählte er nach kurzem Zögern die Nummer des Polizeireviers.
(12) 2. April, Wolfgang Bergmanns Wohnung
Wolff hatte sich zwar nicht sonderlich erfreut, aber zumindest überrascht gezeigt, als Christian ihn unerwartet angerufen hatte, auch wenn seine Stimmung sich zusehends verschlechterte, je mehr Christian ihm berichtete. Im Verhör hatte Christian bewusst das Fax verschwiegen, was Wolff offensichtlich nicht sonderlich gefiel. Das kümmerte Christian allerdings herzlich wenig; er sah ohnehin keine Möglichkeit, Wolffs Meinung von ihm in irgendeiner Weise noch positiv beeinflussen zu können.
Angesichts der neuen Beweislage zeigte Wolff sich aber wenigstens gewillt, Christian in die Untersuchungen einzubeziehen, was Christian mit etwas Schadenfreude zur Kenntnis nahm. Es war einfach zu offensichtlich: Wolff gingen die Ansatzpunkte für schnelle Fahndungserfolge aus, was bedeutete, dass er händeringend eine neue Spur brauchte, um nicht mit seinem gesamten Fall baden zu gehen. Die Medien hatten den kaltblütigen Mord mitten in der Stadt begeistert aufgegriffen und massenmedial ausgeschlachtet. Nicht nur seine Vorgesetzten, sondern die gesamte Bundesrepublik erwarteten eine schnelle Aufklärung des Mordes. Allein die Tatsache, dass ein alter Mann bei Tageslicht ohne Zeugen ermordet werden konnte, sorgte für eine spürbare Beunruhigung unter der Bevölkerung. Seit dem gestrigen Mord war das öffentliche Leben in einem Umkreis von einem Kilometer um den Tatort regelrecht zum Erliegen gekommen.
Nach einer kurzen Busfahrt fand Christian sich wie verabredet pünktlich vor dem alten, ungepflegten Haus ein, dessen Adresse ihm Wolff genannt hatte. Ein Makler hätte die Gegend vermutlich als aufstrebendes Wohnumfeld bezeichnet, aber die Wahrheit sah anders aus. In diesem Wohnviertel lebte die arme Unterschicht, diejenigen, die ihr Leben mit Niedriglohnjobs verdingten, oder gar nicht erst arbeiten gingen. Genau die Menschen, die Christian eine halbe Stunde zuvor ihre uninteressanten Kleinkriege im Nachmittagsprogramm hatte ausfechten sehen. Offensichtlich hatte Bergmanns Entschluss, seiner Universitätsprofessur den Rücken zu kehren, ein nicht unerhebliches finanzielles Loch hinterlassen. Was auch immer Bergmann zu diesem Schritt bewogen hatte, er war bereit gewesen, dafür auf ein erhebliches Maß an Komfort, Luxus und Sicherheit zu verzichten.
Das Haus selbst konnte sein fortgeschrittenes Alter nicht verhehlen. Selbst etwas Farbe hätte wahrscheinlich nichts mehr retten können. Der Putz blätterte in großen Stücken von der Wand ab; überall tat sich der freie Blick auf eine schäbige Ziegelwand auf. Wie auch in der gesamten Straße verschandelte Graffiti die unteren Stockwerke und verstärkte den Eindruck eines Umfelds, in dem jeder vernunftbegabte Mensch die Straßen nach Einbruch der Dunkelheit mied. Irgendwo im Hintergrund schrie ein Kind, während sich ein Mann und eine Frau, vermutlich die Eltern, lautstark stritten. Ihre Stimme klang hoch und schrill und war kaum zu verstehen, während er dunkel polternd eine nur bedingt wiederholenswerte Tirade von Schimpfwörtern losließ.
Christian war beinahe froh, als endlich eine dunkle Limousine auftauchte und sich im langsamen Tempo seiner Position näherte. Wolff erschien mit Verstärkung, diesmal begleitete ihn allerdings nur ein Polizist in Zivil. Als er aus dem Wagen ausstieg, begrüßte er Christian grimmig mit einem Nicken seines Kopfes. Er zeigte in Richtung Eingang des schäbigen Hauses.
Читать дальше