Ein Piratenschatz, etwas anderes konnte es nicht sein, das hier vergraben lag. Daniels Augen begannen zu leuchten, als er an Gold und Geschmeide dachte. An Schätze, die nur darauf warteten, von ihm gefunden zu werden. Er vollführte einen kleinen, übermütigen Tanz. Ein echter Piratenschatz! Und er hatte ihn gefunden. Genug von der Holzfällerei, er würde ein anderes Leben führen. In der großen Stadt, mit Bediensteten. Genug zu essen, Unmengen an Nahrung, und dabei würde es sich mit Sicherheit nicht um altes Brot handeln, sondern um Fleisch. O ja, viel Fleisch. Allein beim Gedanken daran lief ihm das Wasser im Mund zusammen.
Er brauchte Werkzeug. Schaufeln. Und Hilfe. Wer wusste schon, wie tief der Schatz verborgen lag? Und dem Flaschenzug nach zu urteilen, war er sicherlich auch zu schwer, um ihn allein zu heben.
So schnell ihn seine Beine trugen, lief er zurück zum Strand. Seine Freunde würden ihm helfen. John und Anthony. Mit ihnen würde er das ganze Gold teilen und gemeinsam im Reichtum schwelgen. Vor seinem geistigen Auge malte er sich bereits ihre Gesichter aus, wenn er ihnen von seiner Entdeckung berichten würde. Anthony würde wie immer sofort Feuer und Flamme sein, während John in der Rolle als ewiger Zweifler kritisch die Nase rümpfen würde. Allerdings würde auch er es sich nicht entgehen lassen, der Geschichte auf den Grund zu gehen.
Obwohl er vom Laufen völlig außer Atem war, entwich ein glucksendes Lachen seiner Kehle. Er spürte das Gold bereits in seinen Händen. Daniel wusste nicht, wie Gold sich anfühlte, aber das Gefühl musste geradezu himmlisch sein, verheißungsvoll. Das Versprechen auf ein besseres Leben.
„Ich bin reich“, dachte er, „reich!“ Er zog sein kleines Ruderboot zurück in die Wellen. Er würde bald zurück sein, mit dem richtigen Werkzeug und seinen Freunden.
Er wusste allerdings noch nicht, dass seine Entdeckung der Anfang eine langen, vergeblichen Suche war, die noch viele tapfere Männer ins Verderben reißen würde.
(10) 2. April, Christian Roths Wohnung
Christian schlug die Augen auf. Im Licht des neuen Tages wirkten seine gestrigen Erlebnisse wie ein surrealer Traum. Doch so sehr sich Christian auch bemühte; er konnte den vergangenen Tag nicht abschütteln. Bergmann ging ihm einfach nicht aus dem Kopf. Seinen Tod hatte er vielleicht nicht zu verantworten, aber Christian machte sich trotzdem Vorwürfe. Der alte Mann hatte durch und durch verzweifelt geklungen, doch Christian hatte ihn gedanklich als Paranoiker abgehakt und ihn nicht ernst genommen. Ihm war es nicht einmal in den Sinn gekommen, dass die Bedrohung real gewesen sein könnte, die Bergmann dermaßen in Panik versetzt hatte.
Mit einem Gähnen setzte er sich auf den Rand des Bettes. Das Bett war eigentlich zu groß für ihn, ebenso wie die ganze Wohnung, aber bis jetzt hatte er es noch nicht übers Herz bringen können, sich eine kleinere, zu seinen Bedürfnissen passende Behausung zu suchen. Zu sehr erinnerte sie ihn an Jennifer. Überall hatte sie ihre Handschrift hinterlassen, wie in den Gardinen, die sie nach Monaten der mühevollen Suche ausgewählt hatte, oder in all den Kleinigkeiten, mit denen sie die Regale und Schränke dekoriert hatte. Und manchmal glaubte er tatsächlich, noch einen Hauch ihres Parfums in den Räumen wahrnehmen zu können. Meistens war es nur wie ein dezenter Faden seiner Erinnerung, aber er weckte ihn ihm das Gefühl, Jennifer hätte soeben erst den Raum verlassen. Diese Wohnung war seine letzte Verbindung zu ihr. Solange er hier wohnte, konnte er sich einreden, sie sei gerade nur nicht da, einkaufen gefahren, oder im Fitnesscenter. Die gemeinsame Wohnung aufzugeben, wäre einem Eingeständnis gleichgekommen, dass sie tatsächlich für immer von ihm gegangen war. Und er war immer noch nicht bereit, diesen Schritt zu gehen.
Mit einem letzten Gähnen stand er ruckartig auf und schlurfte gemächlich in die Küche. Auf dem Küchentisch lag immer noch das Faxpapier mit dem Foto, das er abends achtlos dort zurückgelassen hatte. Auch wenn er versucht hatte, die Angelegenheit für abgeschlossen zu erklären, ließ ihn dieses Bild einfach nicht los. Bevor er überhaupt einen Gedanken an Frühstück verschwendete, setzte er sich direkt vor das Fax an den kleinen Tisch. Im Grunde diente die Küche sowieso nur noch zum Kaffeekochen.
Christian kochte nicht gerne, und auch ansonsten fand er wenig Verwendung für die zahlreichen Küchenutensilien, die Jennifer in ihrem unermüdlichen Eifer angeschleppt hatte. Abends aß er nicht viel, und tagsüber hielt er sich meistens in seinem Büro auf. In dieser Zeit erwies er sich mit Sicherheit als einer der besten Kunden sämtlicher Pizzadienste in der näheren Umgebung. In seinem Büroschrank stapelten sich bereits die Flaschen billigen Weines, den ihm die Lieferjungen als Geste ihrer Wertschätzung mittlerweile bei jeder Lieferung überreichten. Er lächelte bitter, als er an den gestrigen Abend dachte. Zum Glück war Wolff nicht auf die Idee gekommen, sein Büro durchsuchen zu lassen, andernfalls hätte er ihn nicht nur für einen Mörder, sondern auch für einen schweren Alkoholiker gehalten.
Sein Blick fiel wieder auf das Foto. Er holte eine Lupe. Je öfter er darüber nachdachte, desto unglaublicher erschien ihm das Bild. Es brannte ihm auf der Seele, das Artefakt persönlich zu sehen. Es musste sich um eine Fälschung handeln! Andernfalls wären die Implikationen geradezu atemberaubend. Er müsste alles über den Haufen werfen, was er über die Tempelritter zu wissen glaubte.
Unter der Lupe zeichneten sich die Pixel der Faxvorlage deutlich ab. Das Bild zeigte ein Siegel, schwarzweiß. Aber nicht irgendein Siegel, es war ein Siegel des Templerordens. Christian holte ein paar seiner Fachbücher aus dem Wohnzimmer und schlug sie auf. Siegel der Templer waren an sich keine Besonderheit. Die Tempelritter entwickelten sich im 12. und 13. Jahrhundert zu einer mächtigen Organisation, die sich über ganz Europa ausbreitete. Bei einem Orden dieser Größe blieb nicht aus, dass sie ihre Anwesenheit und ihren Besitz mit ihren Zeichen markierten. Viele Siegel, Siegelsteine und Wappen waren aus der damaligen Zeit überliefert worden und hatten die Wirren der Jahrhunderte überlebt. Aber diese Siegel hatten nichts mit dem Bild zu tun, das vor ihm lag. Nein, dieses Siegel war einzigartig. Es zeigte zwei Tempelritter, stolz hoch zu Ross, auf ihren zwei Schildern das Zeichen des Ordens, das rote Tempelkreuz. Ein Symbol, das auch auf anderen Siegeln zu finden war. Die Fachwelt stritt sich noch darum, warum gerade zwei gerüstete Ritter sich ein Pferd teilten. Vermutlich repräsentierten die beiden Männer die beiden Gesichter des Ordens, auf der einen Seite die christliche Ausrichtung, die Mönche, auf der anderen Seite das bewaffnete Rittertum. Der Templerorden war der erste christliche Orden der bekannten Geschichte, der die Ideale beider Stände vereint hatte.
Was ungewöhnlich an dem Siegel war, und was Christian in dieser Form noch nie zuvor gesehen hatte, war die Kulisse, in der die zwei Ritter thronten. Unter dem Pferd der beiden Reiter fanden sich stilisierte Lilien, wie ein kleines Blumenmeer, das von den Hufen des Pferdes zertrampelt worden war. Kein anderes Siegel, das Christian bekannt war, hatte die beiden Ritter in eine auch nur vergleichbare Kulisse platziert. Vor allem verwunderte Christian die Symbolik der Lilien, insbesondere, wenn er die Geschichte des Ordens betrachtete. Fast 200 Jahre hatten sich die Templer im Heiligen Land behaupten können. Nach dem Fall ihrer letzten christlichen Hauptstadt Akkon im Jahre 1291 gegen den Sultan der Mameluken, zogen sich die Tempelritter vollständig nach Europa zurück. Ihres Heiligen Krieges beraubt, war der Orden über die folgenden Jahre zusehends in Ungnade gefallen. Der Templerorden verfügte damals über das größte Heer der Alten Welt, das nach dem Rückzug aus dem Heiligen Land in unmittelbarer Nähe zu den weltlichen Besitztümern der europäischen Könige stationiert war. Es war nicht wirklich überraschend, dass sich die weltlichen Herrscher durch diese Armee bedroht gefühlt hatten.
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