Inzwischen hielten die drei Männer sich bereits über eine Viertelstunde im Haus auf. Zeit zu handeln ! Kurzentschlossen gab der Beobachter seinen Posten auf. Die Autotür drückt er lediglich ins Schloss, ohne abzuschließen. Das Auto war für keinen Dieb sonderlich interessant, und unter Umständen brachte eine unverschlossene Tür wertvolle Sekunden, wenn es darum ging, diesen Ort schnell verlassen zu müssen.
Entschlossenen Schrittes strebte die Person auf die Tür zu. Aus ihrer Tasche zog sie eine Waffe. Es war an der Zeit, ein paar Antworten einzufordern.
(13) 2. April, Wolfgang Bergmanns Wohnung
Christian stand etwas ratlos vor dem Haufen, der ehemals das große Bücherregal im Wohnzimmer geziert hatte. „Und, bereits was gefunden?“, fragte Wolff neugierig. Christian entgingen allerdings nicht der schnippische Unterton und der skeptische Blick, mit dem Wolff ihn bedachte. Christian hätte ihm am Liebsten das süffisante Lächeln zurück in den Hals gestopft. Er ließ sich allerdings nichts anmerken, sondern musterte scheinbar unberührt die traurigen Überbleibsel von Bergmanns Leben.
Das Wohnzimmer wirkte nicht sonderlich groß, auch wenn es fast über die Hälfte der Wohnung einnahm. Bis auf ein etwas durchgesessenes Sofa, zwei dazu passenden Sesseln und einer kleinen Büroecke mit Schreibtisch und Stuhl war das Bücherregal das vorherrschende Stück Mobiliar. Christian hatte fast intuitiv seine Suche in dem ehemals geordneten Stapel Bücher begonnen. Überall auf dem Boden zerstreut lag das Leben, das Wolfgang Bergmann die letzten Jahre geführt hatte. Unzählige Bücher, die sich mit dem Templerorden oder Nachfolgeorganisationen beschäftigen, hatten ein trauriges, zerfleddertes Ende auf dem grauen Teppich gefunden. Alle trugen die Zeichen intensiven Gebrauchs; Eselsohren, Flecken, geknickte Buchrücken. Ihrem Aussehen nach zu urteilen, hatten die Bücher eine zentrale Rolle in Bergmanns Leben gespielt; er musste Stunden um Stunden mit ihrer Lektüre verbracht haben. Beim Durchblättern ausgewählter Exemplare glaubte Christian, beinahe die Präsenz Bergmanns in den Seiten spüren zu können; als wäre in ihnen durch die Zeit, die er den Büchern gewidmet hatte, ein schwaches Echo seiner selbst hängen geblieben. Ein unheimliches Gefühl.
„Lassen Sie sich Zeit“, brummte Wolff beleidigt, als Christian nicht auf seine Anwesenheit oder seine Stichelleien reagierte. Ungeduldig klopfte er mit seinem Fuß gegen eines der Bücher, das vor ihm auf dem Boden lag, drehte sich danach jedoch um, um sich selbst durch Bergmanns Hinterlassenschaften zu wühlen. Auch wenn Christian es sich nicht anmerken ließ, er spürte durchaus, dass Wolff ihn lediglich provozieren wollte. Mit Erfolg. Langsam aber sicher ließ ihm Wolffs Alphamännchen-Gehabe die Zornesröte ins Gesicht steigen. „Ich war noch nie in dieser Wohnung“, rief Christian ihm gereizt hinterher, „und ich bin noch nicht einmal sicher, wonach wir suchen. Sie müssen mir schon etwas Zeit zugestehen, mich zu orientieren und mich umzuschauen.“
Das war allerdings leichter gesagt als getan. Das Chaos, das der Einbrecher hinterlassen hatte, erschwerte die Suche erheblich. Wenn es überhaupt noch etwas von Interesse zu finden gab. Die Hoffnung, einen Hinweis auf die Herkunft des Schlüssels oder auf den Verbleib des Siegels zu finden, hatte Christian bereits abgeschrieben. Wahrscheinlich würden sie sich mit weniger zufrieden geben müssen.
Er ließ seinen Blick durch den Raum streifen. Der Eindringling hatte sich Zeit gelassen. Für einen simplen Einbruch war der Einbrecher viel zu gründlich vorgegangen. So wie es aussah, hatte er systematisch alle Räume durchkämmt, Möbel verrückt, Bilder abgehängt und stellenweise sogar den Teppich in den Ecken gelöst. Hier hatte jemand nach etwas ganz bestimmten gesucht.
Zumindest klärte sich die Frage, warum Bergmann sich Christian als Ansprechpartner ausgesucht hatte. Unter dem Haufen von Büchern fanden sich auch ein, zwei Werke von ihm selbst. Sie waren von gelben Haftnotizen geradezu übersäht. Offensichtlich hatte sich Bergmann ebenso intensiv mit seinen Büchern beschäftigt wie mit allen anderen, die ausgebreitet vor Christian auf dem Boden lagen. Wolff zuckte allerdings desinteressiert mit den Schultern, als Christian ihn darauf hinwies. „Beeindruckend, ja“, murmelte er, als er hinter dem Schreibtisch in der Ecke aufblickte, dessen Schubladen er durchwühlte, „aber das ändert nichts daran, dass Sie vermutlich die letzte Person waren, die mit Wolfgang Bergmann gesprochen hat.“ Er grinste herausfordernd. Als er Wolffs Gesicht sah, fühlte Christian den unwiderstehlichen Drang in sich aufsteigen, Wolff so lange zu würgen, bis sein schäbiges Grinsen verschwunden war. Da ein Angriff auf einen Polizeibeamten seine Gesamtsituation allerdings nur bedingt verbessern würde, entschied er sich dagegen.
Stattdessen begann er zu überlegen, wo er an Bergmanns Stelle Dinge von besonderem Wert versteckt hätte. Bergmann hatte am Telefon wie ein notorischer Paranoiker geklungen. Jemand, der sich generell von aller Welt verfolgt fühlt, ist vermutlich besonders gründlich, wenn es darum geht, seine Kostbarkeiten zu verbergen. Darüber hinaus zeigte die Wohnung Anzeichen für einen sehr strukturiert denkenden Menschen. Alles im Wohnzimmer schien sich aus einem bestimmten Grund an seinem Platz zu befinden. Die kleine Büroecke, in der sich Wolff in seiner Rolle als Ermittler austobte, wirkte zwar vergleichsweise vollgestellt, aber dennoch hatte alles seinen geordneten Platz gefunden. Seine Unterlagen hatte Bergmann penibel in Ordnern abgeheftet, bis sie dem Einbrecher in die nicht gerade zimperlichen Hände gefallen waren. Kontoauszüge, Quittungen, Rechnungen, alles hatte seinen chronologisch sortierten Platz in den schwarzen Ordnern erhalten, bis sie von unbarmherziger Hand aus dem Regal gerissen und auf dem Boden verteilt worden waren.
Christian hob eines seiner Bücher vom Boden auf. Es war sein drittes Werk. Zwei Jahre intensiver Recherchen hatte er hineingesteckt, die er besser Jennifer hätte widmen sollen. Unbewusst schüttelte Christian den Kopf, um sich auf andere Gedanken zu bringen; er durfte sich nicht von seinen Emotionen ablenken lassen, wenn er in dieser verwüsteten Wohnung etwas finden wollte. Irgendetwas, das es wahrscheinlich noch nicht einmal gab.
Auch in diesem Buch hatte Bergmann beinahe auf jeder Seite in seiner kleinen, kaum lesbaren Schrift seine Anmerkungen hinterlassen. Es waren nur kurze Gedanken, die er niedergeschrieben hatte, wie „Interessanter Ansatz – Prüfen“, „Abweichung zu anderen Standardwerken – glaubwürdige Quelle?“ In dem Kapitel, in dem Christian die Auflösung des Ordens beschrieben hatte, hatte Bergmann vermerkt: „Wem konnten die Tempelritter noch trauen?“ Eine interessante Frage, die Christian sich auch oft gestellt hatte. Kurz vor ihrer Verhaftung in Frankreich waren die Ritter gewarnt worden, so dass sie ihre Habseligkeiten rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten. Die Frage war allerdings: Durch wen? Und wohin konnten Sie fliehen? Eine Flotte von mehreren Schiffen, bis an die Oberkante beladen, erregte sicherlich auch am Anfang des 14. Jahrhunderts Aufmerksamkeit. Aber auch Christian hatte bislang noch keine zufriedenstellende Antwort auf diese Frage gefunden.
Gegen Ende des Buches häuften sich Bergmanns Vermerke. Sie gipfelten auf der letzten Seite in einer simplen Notiz, die Christian aufhorchen ließ: „Interessante Ideen. Könnte helfen“, hatte Bergmann geschrieben. Der Einbrecher hatte mit Sicherheit ebenfalls in diesem Buch geblättert, um zwischen den Seiten verborgene Schriftstücke zu finden. Wusste er inzwischen, dass Bergmann mit ihm Kontakt aufgenommen hatte? Christian fühlte eine beunruhigende Angst in sich aufsteigen. Schwebte er inzwischen in der gleichen Gefahr wie Bergmann?
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